Sonntag, 19. Mai 2019

Didaktische Rezension - Varwicks Nato-Buch

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Was hilft bei der Unterrichtsvorbereitung?
Untersucht an einem Fachbuch zur NATO
Abstract
Fachwissenschaftlich orientierte Bücher, die bei der Unterrichtsvorbereitung helfen, müssen zum einen die Breite von Diskussionen, Kontroversen und Konflikten dokumentieren und zum anderen mit einleitenden und erläuternden Texten Strukturen der Debatten verdeutlichen. Exemplarisch wird dies am Beispiel eines Fachbuches von Johannes Varwick über die NATO untersucht und bewertet.In den letzten Jahrzehnten hat die deutsche Außen- und Militärpolitik in der fachdidaktischen Diskussion keine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Nun muss aber wieder über Krieg und Frieden unterrichtet werden. Die deutsche Außenpolitik soll seit dem Libyen-Krieg von 2011 „Neue Macht“ (SWP / GMF 2013) ausüben und „Neue Verantwortung“ (Varwick, S. 168) übernehmen, was immer das heißen mag.
Die Kolleginnen und Kollegen, die sich in den 1980er Jahren bei solchen Themen engagiert haben, sind wohl in der Mehrzahl inzwischen pensioniert, der Gesprächsfaden ist abgerissen. Die Diskussion muss neu eröffnet werden.
Obendrein hat sich die Unterrichtsvorbereitung für den Politikunterricht seit den 1980er Jahren geändert. Eine Lehrkraft suchte damals möglichst kontroverse und allgemein-informative Zeitungsartikel – ihr im Studium erworbenes Wissen half ihr bei der Auswahl –, diese Texte legte sie fotokopierte sie und besprach sie dann mit den Schülerinnen und Schülern. Sie las zusätzlich populärwissenschaftliche Literatur oder fachdidaktische Publikationen, um den Überblick zu aktualisieren.
Im Internet-Zeitalter gilt jedoch: Alles, was die Lehrkraft zu wissen meint, wird von vielen Texten im Internet bestritten; ihre Schülerinnen und Schüler orientieren sich auch dort. Viele Lehrerinnen und Lehrer arbeiten deshalb von vornherein mit den Schülerinnen und Schülern im Netz.
Nur: Wie findet man in dieser Vielfalt von Quellen die Perlen der Erkenntnis? Die Vieldeutigkeit schafft ein Bedürfnis nach sicherer Orientierung, sie muss in eine Struktur kategorialer Fragen und Antworten gefasst werden können. Orientierungstexte aus der Wissenschaft könnten bei der Vorbereitung eines Unterrichts, in dem die Arbeit mit den Quellen aus dem Netz im Mittelpunkt steht, helfen.

Im Wochenschau-Verlag ist 2017 das Buch „NATO in (Un-)Ordnung – Wie transatlantische Sicherheit neu verhandelt wird“ von Johannes Varwick erschienen. Der Autor ist Professor für „Internationale Beziehungen und europäische Politik“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Das Buch wird auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu einem ermäßigten Preis geführt. Weil es in einem Verlag der politischen Bildung erschienen ist („Fachbücher und Materialien für guten Unterricht“ steht auf dem Prospekt), liegt die Frage nahe, wie weit es den zu unterrichtenden Gegenstand aufhellen kann. Im Prospekt des Verlages wird es als „politisches Sachbuch“ geführt.
Das Buch wurde auf einer Veranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft prominent vom ehemaligen Bundesminister der Verteidigung Volker Rühe im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vorgestellt (DAG 2017). Das lässt vermuten, dass ein Publikum angesprochen werden soll, das sich professionell oder laieninteressiert mit der Nato beschäftigt und über Herausforderungen, in denen sie sich gegenwärtig sieht, eine pointierte Auffassung lesen möchte.
Zugleich könnte es auch als Einleitungstext für Studierende der Politikwissenschaft gemeint sein. Darauf weist die kurze Einführung in die Literatur zum Thema hin (Varwick, S. 189f.).
Vielleicht soll das Buch auch alle Funktionen gleichzeitig erfüllen: Fachbuch für Studierende, Sachbuch und Meinungsbildung für Interessierte, fachliche Hilfe für Lehrkräfte. Ob das gelingt?
Hier soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit das Buch für die Vorbereitung von Politikunterricht geeignet ist. Es werden deshalb nur solche Kapitel angesprochen, die für einen einführenden Unterricht interessant sein könnten.
Ein Material für Lehrerinnen und Lehrer sollte Unterricht nach dem Fallprinzip und nach dem Beutelsbacher Konsens unterstützen. Und wenn solch ein Unterricht den Gegenstand auch noch genetisch klärt – Warum ist das so, wie es ist? Wie ist es entstanden, geworden? Welche Herausforderungen folgen daraus heute? –, kann erreicht werden, dass die Studierenden, die Schülerinnen und Schüler „verstehen“, was besprochen wird (Roth, S. 116).
Lehrerinnen und Lehrer sind nicht anders als Politiker, Politikerinnen und Journalisten bei aktuellen, meist unübersichtlichen politischen Problemen fachlich oft überfordert. Prüfen sie vor dem Unterricht die in Frage kommenden Materialien mit den Prinzipien des Exemplarischen, des Kontroversen und des Genetischen, achten sie auf die Herkunft ihrer Materialien und legen sie mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht regelmäßig eine Phase ein, in der der bisherige Weg geprüft wird, haben sie nach ihren Möglichkeiten alles getan, um Fehler zu minimieren (Grammes / Leps 2017).
Die Frage ist also, ob Varwicks Buch über die Nato die Vorbereitung eines Unterrichts erleichtert, der diesen Prinzipien entsprechen soll.
Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert. Zuerst geht es um „Sicherheit: Begriffe und Konzeptionen“ und um „Kollektive Sicherheit und Regionalpakte“. Im zweiten Kapitel gibt es „allianztheoretische Überlegungen“, danach Ausführungen zur Gründung der Nato und eine „Analyse des Nato-Vertrags“ (Varwick schreibt „Nato“, nicht „NATO“.) Es folgt ein in Phasen unterteilter Überblick über die Geschichte der Nato, dann werden die politischen und militärischen Strukturen der Nato dargestellt. Kapitel fünf erklärt die Entwicklung der Nato-Strategie, von der „massiven Vergeltung“ bis zur gegenwärtigen Entwicklung, im sechsten Kapitel geht es um die „Erweiterungen und Partnerschaften der Nato“, danach ein Kapitel über „Russland und die „Osterweiterung“. Kapitel sieben thematisiert das Verhältnis von EU und Nato; im achten Kapitel werden die gegenwärtigen Aufgaben der Nato diskutiert: „‚Out of aerea‘, ‚humanitäre Interventionen‘, ‚nation building‘ - ‚mission redifined‘“. Danach geht es um das Verhältnis Deutschlands zur Nato und abschließend um die Zukunft der Nato in der „internationalen ‚Un-Ordnung‘“.
Dieser Überblick macht den Eindruck: Alles drin, was eine Lehrkraft braucht, wenn der Text auch nur 200 kleine Seiten hat.
Eine gegenwärtige Unterrichtseinheit (UE), in der die Nato wichtig ist, könnte sich zunächst mit der Entstehung der Nato und danach mit der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, der Nato-Osterweiterung oder den gegenwärtigen Krisen wegen der Ukraine und des Baltikums beschäftigen.

1 Der Beginn des Kalten Kriegs

Wenn dieses Buch sich auch – wie seine Überschrift sagt – mit der gegenwärtigen Nato beschäftigt, wollen Schülerinnen und Schüler vielleicht wissen, was das überhaupt ist: Nato? Und wie ist sie entstanden und warum gibt es sie? Sie entstand im Kalten Krieg. Was ist der „Kalte Krieg“?
Zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion deutlich sichtbar, dass der Kalte Krieg begonnen hatte. Angesichts des sowjetischen Drucks auf die Türkei und Griechenland im Jahr 1947 sowie des Bürgerkriegs in Griechenland verkündete der amerikanische Präsident Harry S. Truman die nach ihm benannte Doktrin. Sie besagte, dass die USA Griechenland und der Türkei sowie allen ‚freien Völkern‘ Unterstützung zusicherten.
(Varwick, S. 31)
Damit ist die Sache klar: Schuld hatte die Sowjetunion, die USA haben nur reagiert. Nähere Erklärungen gibt es nicht. – Man kann aber auch andere, leicht zugängliche Darstellungen lesen:
Die Lage in Griechenland war ein inneres Problem, das Churchill geschaffen hatte, als er im Dezember 1944 eine Allparteien-Regierung sprengte und einen Bürgerkrieg auslöste. Wie Churchill selbst mehrfach anerkannte, hatte Stalin sich getreulich an das zwei Monate zuvor mit Churchill auf dessen Initiative geschlossene Balkan-Teilungsabkommen gehalten und sich in Griechenland nicht eingemischt. Nachdem britische Truppen die griechische Rechte in den Sattel gesetzt hatten und nachdem das Rechtsregime unter Verwendung von Nazi-Kollaborateuren einen Einschüchterungsapparat aufgebaut hatte, wurden am 31. März 1946 „Wahlen“ abgehalten, in denen nur 49% der registrierten Wähler ihre Stimme abgaben. Die brutal verfolgte Linke, die zum Wahlboykott aufgerufen hatte, setzte ihren Widerstand fort.
(Kahn, S. 87)
Auf der Internet-Seite der Bundeszentrale für politische Bildung findet man einen inhaltlich von Kahn kaum abweichenden Text (Lymperopoulos 2012). Für den weiteren Verlauf des Bürgerkriegs behauptet Varwick – ohne Beleg –, dass die Sowjetunion die griechischen Kommunisten unterstützt habe. Bei Bernd Stöver, Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Globalgeschichte an der Universiät Potsdam, liest man dazu:
In Griechenland begann im August 1946 der bis 1949 dauernde Bürgerkrieg zwischen den von Großbritannien unterstützten Regierungstruppen und den vor allem von Jugoslawien, Albanern und Bulgaren versorgten kommunistisch dominierten Partisanenverbänden. Mittlerweile weiß man, daß Stalin keineswegs dafür war.
(Stöver, S. 22)
Anders steht es mit der Türkei. Hier verlangte die Sowjetunion 1945/46 umfangreiche Grenzverschiebungen zugunsten Sowjet-Georgiens und des sowjetischen Armeniens. Russland hatte diese Gebiete 1921 in einer Phase der Schwäche an die Türkei abgetreten (Wikipedia: Vertrag von Kars). Dieses sowjetische Vorhaben scheiterte am Widerstand der Türkei und des Westens.
Die Sowjetunion forderte ebenfalls eine Neuregelung der Kontrolle der türkischen Meerengen. Sucht der lesende Lehrer im Internet, kann er in Google-Books lesen, dass die westlichen Alliierten die Forderung der Sowjetunion zunächst toleriert hatten, aber eine Kehrtwende machten, als die Sache konkret werden sollte (Kreiser, S. 78). – Was mag richtig sein?
Es war also – anders als die kurze Bemerkung Varwicks nahelegt – eine vielschichtige, zu einem guten Teil vom Westen selbst herbeigeführte Krise, in der Präsident Truman vor dem Kongress eine Rede hielt.
Varwick zitiert sie ausführlich. Diese Rede Trumans bedürfte im Unterricht einer kritischen Analyse, dazu bietet Varwicks Buch keine Hilfe.
Schon hier zeigt sich: Mit Varwicks Buch allein kommt die Unterrichtenden bei der Vorbereitung nicht aus. – An dieser Stelle könnte man den Text jedoch mit dem Argument verteidigen, dass es ihm nicht um die Vergangenheit der Nato geht, sondern um ihre Gegenwart.

2 Nach 1990

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa sah es zunächst so aus, als ob die Ost-West-Konfrontation beendet wird. In der „Charta von Paris“ (November 1990), einem Dokument des KSZE-Prozesses, heißt es:
Ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Freiheit
Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. [...]
Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.
Das war jedoch nur ein kurzer Frühling des Friedens und der Zusammenarbeit. Die Verhältnisse sind heute so angespannt, dass von einem neuen Kalten Krieg gesprochen wird.
Varwicks Text soll auch bei diesem Thema unter den Aspekten des Exemplarischen, Kontroversen und Genetischen gelesen werden. – Er schreibt:
Mit der Implosion der Sowjetunion Ende 1991 war eine dominierende Blockführungsmacht verschwunden [...]
Doch bereits zwei Jahre nach dem Untergang der UdSSR und angesichts der nach den Wahlen zur Duma gewachsenen Rolle der national-patriotischen und kommunistischen Kräfte begann Russland mit der Errichtung einer neuen Einflusssphärenpolitik auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, was zur Konfrontation mit dem Westen führte.
(Varwick, S. 108f.)
In der ZEIT konnte man damals jedoch von ihrem Russland-Experten Christian Schmidt-Häuer lesen:
Rußland verlangt von der internationalen Gemeinschaft seit Monaten Sondervollmachten als Garant der Stabilität auf dem Territorium der früheren Sowjetunion. [...] Und er (= der Westen; HL) muß Rußland weiter zubilligen, sich als Großmacht mit einer Sicherheitssphäre zu behaupten. Wie sonst und durch wen könnten in diesem Raum „neue Jugoslawien“ verhindert werden?
(Schmidt-Häuer 1993)
Folgt man Schmidt-Häuer, stabilisierte Russland mit seiner Politik des „Nahen Auslands“ Osteuropa und Teile Asiens auch im Interesse des Westens, als mit genau denselben Gründen die Nato „out of area“ ging. Der Fortgang des Textes von Varwick ist deshalb nicht gerade einleuchtend:
Auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Budapest im Dezember 1994 machten die Vertreter des Westens ihren russischen Kollegen unmissverständlich deutlich, dass die neue europäische Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage der Nato, und nicht der KSZE / OSZE, in der Russland gleichberechtigtes Mitglied ist, errichtet würde.
(Varwick, S. 109)
Es wird nicht klar, was den Wandel in den Auffassungen des Westens hervorgerufen hat. Russland passte sich jedoch an die gegebene Lage an und beteiligte sich sogar mit der Nato-Russland-Grundakte von 1997 am Prozess der Nato-Osterweiterung. Aber es hat sich nach russischer Auffassung nicht gelohnt:
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 wurde Putin noch deutlicher. Eine weitere Expansion der Nato „represents a serious provocation that reduces the level of mutual trust [...] and impose new dividing lines and walls on us“ (Putin 2007). Außenminister Sergey Lavrov (2007) ergänzte: „We cannot, of course, watch impartially the military structure of the alliance moving ever closer to our borders. [...] All of this leads to new dividing lines on the European continent and not only between States, but also within them“. Insbesondere eine Ausdehnung der Nato-Aktivitäten in den Kaukasus und nach Zentralasien wird von Russland als Bedrohung seiner Interessen und als eine ‚Einkreisung durch den Westen‘ gesehen [...] .
(Varwick, S. 111, dort die Quellen für die Zitate)
Varwick beschäftigt sich nicht weiter mit dieser russischen Reaktion auf das Verhalten des Westens. Stattdessen wechselt er das Thema:
Diesen in gewisser Weise rational nachvollziehbaren Bedenken der russischen Führung steht gleichwohl eine bedrohliche innenpolitische Entwicklung in Russland gegenüber, die durch Einschränkung der Pressefreiheit und Abbau der Demokratie gekennzeichnet ist.
(Varwick, S. 111)
Irgendwie liegt also in der russischen Innenpolitik, die für Varwicks Leserinnen und Leser nicht sonderlich gut einsehbar ist, der Grund für diesen Wandel der russischen Außenpolitik und nicht in der Politik der Nato.
Wer eine bessere Darstellung der Entwicklung nach 1989 sucht, beschäftige sich mit einem Referat von Oberst a.D. Wolfgang Richter, Mitarbeiter der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, gehalten auf einer Veranstaltung der „Friedensfreunde Dülmen“ im Jahr 2017. Größere Auszüge aus diesem Vortrag sind auch für die gymnasiale Oberstufe geeignet.
Die Georgien-Krise von 2008 ist Anlass für eine kurze Bemerkung von Varwick:
Beispielsweise erklärte Dimitri Medwedew (2008) nach der Militärintervention Russlands in Georgien, Russland habe im postsowjetischen Raum „privilegierte Interessen“.
(Varwick, S. 112)
Aus einem längeren Beitrag Medwedews wird eine einzelne Formulierung genommen, ohne dass ihr Inhalt geklärt wird (dazu Lawrow 2008).
Russland hatte mehrfach deutlich gemacht, dass es nicht auf eine Einbindung der Nato (gemeint ist wohl „Anbindung an die Nato“; HL) setze, sondern eine neue europäische Sicherheitsordnung anstrebe. So hatte der damalige Präsident Medwedew erstmals im Juni 2008 einen ‚europäischen Sicherheitsvertrag‘ vorgeschlagen, der bestehende Instrumente wie die Nato überlagern sollte, ohne dass diese Vorschläge in der Nato ernsthaft diskutiert worden wären.
(Varwick, S. 111f.)
Was Medwedew vorgeschlagen hat, müssen die Leser im Internet suchen. In einem Papier des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) erfährt man:
Medwedew kam hier zum einen auf den Gedanken zurück, dass eine neue Sicherheitsordnung Europas keinen Staat im euro-atlantischen Raum ausgrenzen („isolieren“) dürfe. Sie soll im Gegenteil gleiche sicherheitspolitische Regeln für alle Teilnehmer ohne Ausnahme aufstellen. [...]
a. Kein Staat und keine Staatengruppe dürfen die eigene Sicherheit auf Kosten anderer gewährleisten.
b. Es dürfen keine Aktionen von Militärbündnissen oder Koalitionen zugelassen werden, die die Einheit (Unteilbarkeit) des gemeinsamen Sicherheitsraumes beeinträchtigen.
c. Es dürfen keine Militärbündnisse zum Nachteil anderer Vertragsparteien entstehen.
(Zagorski, S. 51f.)
Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, schrieb zu den russischen Vorschlägen:
In keinem Fall darf Art. 5 des Nordatlantikvertrags infrage gestellt werden. Auch darf dieser Vertrag in keiner Weise die Freiheit der Bündniswahl für einzelne europäische Staaten beeinträchtigen.
(Ischinger 2009)
Nur war es gerade der Zweck des russischen Vorschlags, durch eine Vertiefung des KSZE-Prozesses Stabilität in die Bündnisstrukturen und -beziehungen in Europa zu bringen, damit sich Krisen und Kriege wie in Georgien nicht wiederholen.
Der Westen (Nato und EU) setzte die Erweiterungspolitik fort und war dann über die vorhersehbaren Folgen der eigenen Politik erstaunt. Schuld hat natürlich die andere Seite. Denn die hatte sich nicht an den KSZE-Prozess gehalten (Ischinger 2018).
Die Folgen der Umorientierung des Westens vom KSZE / OSZE-Prozess, der nicht nur Verhandlungen, sondern auch Lösungen ermöglicht hätte, zur NATO-EU-Erweiterung, sind auch in Zukunft riskant. Varwick schreibt:
Hinsichtlich einer allenfalls auf längere Sicht erreichbaren Wiederaufrichtung der gesamteuropäischen Friedensordnung, die den postsowjetischen Raum einschließt, ist selbstverständlich auf der Basis eines fairen Interessensausgleichs mit Russland zu sprechen – allerdings ohne sich auf Putin zu beschränken. Anstatt ein zunehmend autoritäres Regime „durch an Selbstaufgabe grenzende Kooperationsangebote noch weiter zu legitimieren und das eigene Wertesystem zu untergraben“ [...], sollte man sich vielmehr auf den Zeitpunkt vorbereiten, an dem es „nicht zuletzt aufgrund einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik zu einer Destabilisierung Russlands kommt“ [...]. Diese kann sich im Ergebnis natürlich in mehrere Richtungen vollziehen: von einer Rückkehr zu den Prinzipien von Helsinki nach einer innenpolitischen Kurskorrektur (best case) bis hin zu einer nochmals aggressiveren Außenpolitik (worst case) ist vieles denkbar.
(Varwick, S. 115, dort die Quelle für die Zitate)
Ins Praktische übersetzt heißt das: Wenn die Nato zusammen mit Russland zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem finden soll, dann muss ein „fairer Interessensausgleich“ mit Russland gesucht werden. Das wird aber erst dann gelingen, wenn Russland – auch an seiner Regierung vorbei – destabilisiert (worden) ist. Das kann natürlich schief gehen: Die Konfrontation mit Russland wird womöglich härter. Dann aber ist das eben so ... – Ob dieses Programm, buchstabiert man es im Unterricht ganz handfest-praktisch aus, auf Zustimmung stoßen wird?
Auch dieser Abschnitt zeigt: Dieses Buch muss aus zahlreichen Quellen ergänzt werden, wenn der Unterricht den Schülerinnen und Schülern exemplarisch und kontrovers zeigen will, für welche Politik die Nato steht.

3 Weitere Eindrücke

Arbeitet man sich durch den Text Varwicks hindurch, wird man doch mit einigen Erkenntnissen belohnt: Der Westen und nicht Russland hat nach 1990 den KSZE-Prozess verlassen, stattdessen hat er den Weg der Osterweiterung der Nato beschritten (S. 108f.), um den Einfluss Russlands gering zu halten; die „out-of-area“-Wende der Nato hatte keine explizite vertragsrechtliche Grundlage, hat sie bis jetzt nicht und wird sie auch nie haben (S. 140ff.); der Angriff der Nato von 1999 auf Jugoslawien war zwar völkerrechtswidrig, aber weil er notwendig war, sind jederzeit Wiederholungen möglich, wenn auch vermutlich nicht häufig (S. 151, 183); das Eingreifen der Nato in Libyen hat die gesamte Region destabilisiert, die Nato hat aber daraus gelernt, wie sie ihren Einsatz das nächste Mal besser durchführt (S. 163); Deutschland hat sich schon vor der sonst gerne als Ursache herangezogenen Ukraine-Krise von 2014 zu jener neuen Außen- und Militärpolitik entschieden, die jetzt u.a. zu verstärkter Aufrüstung führt; die deutsche Bevölkerung sieht ärgerlicherweise den gegenwärtigen Kurs nicht ein (S. 169ff.), die Bundesregierung interessiert das beruhigenderweise aber nicht (S. 174).

4 Resumée

Will man Exempel unterrichten, ist die Hilfe durch Varwicks Text unbefriedigend: Teils ist er zu kurz, um einen Sachverhalt zu klären, teils ist er äußerst parteiisch. Kontroversen werden an keiner Stelle so weit geklärt, dass die Leserinnen und Leser den Streit nachvollziehen können.
Für den Unterricht fehlt noch der Gegenpart. Im elften Kapitel gibt Varwick bibliographische Hinweise, die zum eigenen Weiterstudium anregen sollen (Varwick, S. 189ff.). Dort nennt er fünf Titel, die sich kritisch mit der Nato beschäftigen. Der neueste Text stammt aus dem Jahr 2016, geschrieben von Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (IMI): „Nato-Aufmarsch gegen Russland – oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird“ (Wagner 2016). Die grundlegende didaktische Figur einer Unterrichtseinheit, in der die Nato zentraler Unterrichtsgegenstand ist, könnte so aussehen: Die / der Unterrichtende wählt aus dem großen Bereich Nato / Krieg+Außen- / Militärpolitik einen Abschnitt aus dem Varwick-Buch aus und setzt einen passenden Abschnitt von J. Wagner daneben. Die Schülerinnen und Schüler mögen dann mit Hilfe des Internets – z.b. mit dem Vortrag von Oberst Richter – ihre eigenen Auffassungen entwickeln.
Die kategoriale Ordnung des Gegenstandes – die Kontroverse, ihren Gegenstand und ihre Struktur, Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten – muss die Lehrkraft selbst entwerfen, damit sie Varwicks Text in eine exemplarisch-kontroverse Struktur einbinden kann.
Dieses Buch zeigt: Fachwissenschaftlich orientierte Bücher, die bei der Unterrichtsvorbereitung helfen, müssen zum einen die Breite von Diskussionen, Kontroversen und Konflikten dokumentieren und zum anderen mit einleitenden und erläuternden Texten Strukturen der Debatten verdeutlichen. Varwicks Buch genügt diesen Anforderungen nicht.
Will der Verlag Lehrerinnen und Lehrer bei der Unterrichtsvorbereitung unterstützen, muss er ein anderes Format wählen. Ein mögliches Vorbild sind die „Grundwerte“-Bücher von Franz Neumann, an denen Wolfgang Hilligen beteiligt war, beispielsweise das Buch „Frieden“ von Reimer Gronemeyer von 1978.

5 Literatur

Chahbouni, Danny (2017): Rezension – NATO in (Un-)Ordnung, (https://offiziere.ch/?p=32105; 23.9.2018)
Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V. (DAG) (2017): Einladung zu Die NATO in (Un-)Ordnung Mittwoch, 21. Juni 2017 ( http://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=45864&elem=3054502; 23.9.2018)
Grammes, Tilman / Leps, Horst (2017): Orientierungswissen und Handlungkompetenz in der globalisierten Welt, in: Kenner, Steve / Lange, Dirk (Hg.): Citizenship Education – Konzepte, Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung, Schwalbach/Ts.: Wochenschau, S. 132-187
Gronemeyer, Reimer (1978): Frieden, Baden-Baden, Signal
Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (2018): Über IMI (http://www.imi-online.de/uber-imi/wir-uber-uns/; 23.9.2018)
Ischinger, Wolfgang (2018): Sie sehen nur die Spitze des Eisbergs – Wolfgang Ischinger über die Rolle der Münchner Sicherheitskonferenz, Interview, 5. Januar 2018 (https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2018/januar-februar-2018/sie-sehen-nur-die-spitze-des-eisbergs; 23.9.2018)
Ischinger, Wolfgang (2009): Keine Angst vor Medwedew! Die russische Initiative zur europäischen Sicherheit ist beachtlich, DER TAGESSPIEGEL, 3.9.2009 (http://www.tagesspiegel.de/meinung/positionen-keine-angst-vor-medwedew/1641946.html; 23.9.2018)
Kahn, Helmut Wolfgang (1986): Der Kalte Krieg, Band 1, Spaltung und Wahn der Stärke 1945 – 1955, Köln: Pahl-Rugenstein
Konrad-Adenauer-Stiftung: Charta von Paris für ein neues Europa vom 21.11.1990 (http://www.kas.de/wf/de/71.4503/; 23.9.2018)
Kreiser, Klaus (2012): Geschichte der Türkei – von Atatürk bis zur Gegenwart, München: C.H.BECK
Lawrow, Sergej (2008): Stenogramm der Antworten, http://www.mid.ru/de/organs/-/asset_publisher/AfvTBPbEYay2/content/id/322110 (07.10.2018)Lymperopoulos, Lukas (2012): Kurze Geschichte Neugriechenlands, (http://www.bpb.de/apuz/142831/kurze-geschichte-neugriechenlands?p=all; 23.9.2018)
Richter, Wolfgang (2017): Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Vortrag (https://weltnetz.tv/video/1183-meinst-du-die-russen-wollen-krieg; 23.9.2018)
Roth, Heinrich (1965): Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens, 8. Aufl., Hannover: Schrödel
Schmidt-Häuer, Christian (1993): Moskau warnt, DIE ZEIT Nr. 49 / 3.12.1993(http://www.zeit.de/1993/49/moskau-warnt/komplettansicht; 23.9.2018)
Stiftung Wissenschaft und Politik / German Marshall Fund of the United States (2013): Neue Macht - Neue Verantwortung - Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch https://www.swp-berlin.org/publikation/neue-macht-neue-verantwortung-neue-aussenpolitik/ (27.9.2018)
Stöver, Bernd (2012): Der Kalte Krieg, 4. Aufl., München: C.H.BECK
Varwick, Johannes (2017): NATO in (Un-)Ordnung – Wie transatlantische Sicherheit neu verhandelt wird, Schwalbach/Ts.: Wochenschau
Wagenschein, Martin (1999): Verstehen lehren, Weinheim: Beltz
Wagner, Jürgen (2016): NATO-Aufmarsch gegen Russland – Oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird, Berlin: berolina
Zagorski, Andrei (2009): Der russische Vorschlag für einen Vertrag über europäische Sicherheit: Von der Medwedew-Initiative zum Korfu-Prozess, (https://ifsh.de/file-CORE/documents/jahrbuch/09/Zagorski-dt.pdf; 23.9.2018)
Horst Leps, Hamburg
Johannes Varwick NATO in (Un-)Ordnung – Wie transatlantische Sicherheit neu verhandelt wird, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2017, ISBN:            978-3-7344-0488-7, 224 Seiten, 24,90 Euro