Sonntag, 19. Mai 2019

Lehrkunstdidaktik im Politikunterricht

So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen. Je vollkommener beides geschieht, desto mehr verschwindet der Widerspruch.
Friedrich Schleiermacher (1826)

(Stand: 19.04.2013)
Inhaltsverzeichnis
 1. Einleitung - Lehrstücke
2. Genetischer Politikunterricht
2.1 Martin Wagenschein und der genetische Unterricht
2.2 Die Gründung eines Gemeinwesens
3. Lehrstücke im Politikunterricht

3.1 „In eine neue Welt“
3.2 Grundbegriffe und Konzept der Lehrkunstdidaktik
3.3  Herodot, Aristoteles und die Verfassungen der Gegenwart
3.4 John Rawls und die „Theorie der Gerechtigkeit“
3.5 Adolph Freiherr Knigge und „Über den Umgang mit Menschen“
3.6 Die UAZ - Unsere Abend-Zeitung
4. Ein Politik-Curriculum mit Lehrstücken
Literaturverzeichnis


Mit dem Kinde von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist. Denn Kinder denken, sich selbst überlassen, immer von der Sache aus, ihrer Sache, der Sache, die sie antreibt. Und nicht von jener anderen, sekundären Sache, die Generationen von Fachleuten daraus gemacht haben. Eine Anfängerdidaktik, die von dieser fertigen Physik aus plant, ist pädagogisch gesehen unsachlich. Martin Wagenschein1

 1. Einleitung - Lehrstücke
Wenn gegenwärtig Politik und Schulverwaltung nach besserem Unterricht suchen, dann ist es nützlich, sich mit dem Frankfurter Allgemeindidaktiker Andreas Gruschka an Erfahrungen über guten Unterricht zu erinnern:

Sobald die Didaktik dazu dient, die Schüler in die Erkenntnisse der Phänomene zu verwickeln, wird es sachlich und spannend im Unterricht. Die Vermittlung regelt sich gleichsam organisch als Bearbeitung der anfälligen Aufgaben zur Aufschließung und Beherrschung der Sache. Diese bewahrt und entfaltet ihre Faszinationskraft jenseits ihrer Didaktisierung. (Gruschka 2012: 22)

So hat auch schon die didaktische Moderne2 der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts argumentiert: Martin Wagenschein ([1968] 1999), Heinrich Roth (1965) und Wolfgang Klafki ([1959] 1975).
Dazu liegen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts die Unterrichtsberichte und -vorschläge Martin Wagenscheins und seit zwanzig Jahren die „Lehrstücke“ der Lehrkunstdidaktik nach Hans Christoph Berg und Theodor Schulze (s. 1995, 1997) vor.

In diesem Buch werden Lehrstücke für den Politikunterricht vorgestellt.
Auf eine kurze Darstellung der genetischen Didaktik Martin Wagenscheins folgt der Vorschlag zu einem genetischen Politiklehrstück von Eduard Spranger und dessen Realisierung durch Andreas Petrik. Vor einer Einführung in die Theorie und Praxis von Lehrkunstdidaktik geht es um Wolfgang Hilligens Lehrstück über die Mayflower und die Pilgerväter, denn es nimmt in Ansätzen die Theorie einer Lehrkunstdidaktik für den Politikunterricht vorweg. Den Hauptteil des Buches bildet ein zum Nachmachen und Weiterentwickeln einladender Bericht über das Lehrstück „Welches aber ist die beste Verfassung? Nach Aristoteles“. Die Schülerinnen und Schüler werden mit einem grundlegenden Problem der politischen Ordnung konfrontiert. Sie erarbeiten selbst Lösungen, mit denen sie sich ein Verständnis der Verfassungstheorie von Aristoteles und der Grundzüge moderner Verfassungen ermöglichen. Zunächst wird der Kern des Gegenstandes didaktisch (nach Klafki [1959] 1975) analysiert, darauf folgt ein aus vielen Durchgängen zusammengestellter Unterrichtsbericht. Die Auswertung soll verschiedene Aspekte der Lehrkunstdidaktik und ihrer Leistungsfähigkeit für den Politikunterricht zeigen. Das Lehrstück über John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ ist ein flexibler Abschnitt in Unterrichtseinheiten zur Gerechtigkeit im Politikunterricht, das auch im Religions- oder Philosophieunterricht in der Mittelstufe oder der gymnasialen Oberstufe verwendet werden kann. Adolph Freiherr Knigges Lehrstück „Vom Umgang mit Menschen“ kann danach von den Leserinnen und Lesern weitergeschrieben werden. Das Lehrstück „Unsere Abend-Zeitung“ wird vorgestellt.

Sprangers Lehrstück muss als erstes genannt werden, schon weil vermutet werden kann, dass Wagenschein zumindest indirekt als Gesprächspartner an seiner Entstehung beteiligt war (Petrik in Matt/Schattschneider 23). Das Lehrstück von Petrik wird nur so weit vorgestellt, dass die Leser es als gelungene Konkretisierungen des Vorschlags von Spranger verstehen können und es im Original (Petrik 2013) lesen möchten, denn Petrik hat sein Lehrstück „Dorfgründung“ umfassend dokumentiert. Eine Lehrerin oder ein Lehrer können es im eigenen Unterricht wiederholen. Ob Hilligens Mayflower didaktikgeschichtlich auf Sprangers Inselgeschichte zurückgeführt werden kann, lässt sich mit dem Literaturverzeichnis des Lehrerhandbuches nicht klären (Hillligen/George 1975b: 20); eine Gründung passt exakt in Hilligens Didaktik der Herausforderungen-Chancen-Gefahren (Hilligen/George 1975b: 16ff).
Ein Leser jedoch, der direkt in die Lehrstückarbeit hinein will, kann unmittelbar mit der Lektüre des Lehrstücks „Welches aber ist die beste Verfassung? Nach Aristoteles“ beginnen. Davor oder danach liest er dann die Abschnitte über Wagenscheins genetischen Unterricht und die Grundbegriffe der Lehrkunstdidaktik. An diesem Lehrstück habe ich während meiner Dissertation „Lehrkunst und Politikunterricht“ (Leps 2006, Gutachter Hans Christoph Berg (Universität Marburg) und Tilman Grammes (Universität Hamburg)) über Theorie und Praxis von Lehrkunstdidaktik im Politikunterricht gearbeitet und es danach weiterentwickelt. Die Absicht ist, dass die Leser nach der Lektüre dieses Abschnitts sich im Klassenzimmer in den Lehrstückunterricht einüben, um später mit der Entwicklung eines Lehrstückes an einem sie faszinierenden Stoff beginnen können.
Die Lehrstücke über Knigge und Rawls sind ein Zusatznutzen aus der Arbeit an der Dissertation: Kleine Stücke, mit denen ich mein Konzept von Lehrkunstdidaktik im Politikunterricht an anderen Gegenständen überprüfte. Das in der Schweiz entwickelte und schon mehrfach erprobte Lehrstück „Unsere Abend-Zeitung“ zeigt, dass es noch weitere Zugänge zum genetischen und lehrkunstdidaktischen Arbeiten im Politikunterricht gibt.

In Theorie und Konzept der Lehrkunstdidaktik wird in diesem Buch nur insoweit eingeführt, wie es für das Verständnis der hier vorgestellten Lehrstücke erforderlich ist. Wer mehr lesen will, greift zu den Büchern Berg/Schulze 1995 oder Berg 2009. 


2. Genetischer Politikunterricht

2.1 Martin Wagenschein und der genetische Unterricht
„Verstehen“ muss gelehrt werden (Wagenschein [1968] 1999).

Schulunterricht soll bilden, d.h. das zu unterrichtende Wissen soll subjektiv angeeignet werden. Der Laie soll Auskunft über Gründe geben können, wenn er ein Phänomen verstanden haben will. Das Wissen des Wissenschaftler muss in das Schulwissen für den wissenschaftlich interessierten Laien transformiert werden (Grammes 1998: 82-102).

Es genügt nicht, Sätze zu lehren („Die Erde läuft um die Sonne“); es genügt auch nicht, sie zu veranschaulichen („So wie dieser Apfel um die Lampe“). – Und doch kommen wir meistens nicht weiter.
Wir müssen verstehen lehren. Das heißt nicht: es den Kindern nachweisen, so daß sie es zugeben müssen, ob sie es nun glauben oder nicht. Es heißt: sie einsehen lassen, wie die Menschheit auf den Gedanken kommen konnte (und kann), so etwas nachzuweisen, weil die Natur es ihr anbot (und weiter anbietet). Und wie es dann gelang und je neu gelingt. (Wagenschein [1967] 2009: 294)

Die Erklärung, die der Lehrer gibt, ist nicht falsch. Sie ist eine Vereinfachung des gegenwärtigen Wissens mit Hilfe alltäglich-bekannter Vorstellungen. Der Apfel läuft um die Lampe wie die Erde um die Sonne. Laufen Äpfel um Lampen? Der von Wagenschein vorgestellte Lehrer modelliert das noch Unbekannte am schon Bekannten, jedoch so, dass der Unterschied zwischen dem Unbekannten und dem Bekannten eingeebnet wird. Das Unbekannte löst sich kurios im Bekannten auf.
Aber auch die vereinfachte Darlegung des gegenwärtigen Wissenschaftsstandes ist kein besserer Weg. Oft endet er beim Auswendiglernen von Formeln und Sätzen, entsprechend dem Vokabellernen beim Lernen einer Fremdsprache. „Verstanden haben“ heißt, eine Erkenntnis gegen Irritationen und Widersprüche gewonnen haben und verteidigen können.

Deshalb lernt Wagenschein bei den Entdeckern, denn sie haben die Transformationen des Wissens als erste vollzogen: Von ihren Erfahrungen zu ihren Fragen, dann zu ihren Ergebnissen und zum Schluss zur Mitteilung der Ergebnisse an andere Wissenschaftler, aber auch an das Publikum und an ihre Schüler. Sie können Gründe angegeben, weshalb sie eine Erscheinung so und nicht anders erklären. Sie sind einen Weg des Erkennens und Denkens und oft auch Lehrens gegangen, der vielleicht dem Lehrer zeigt, wie die Erkenntnis gewonnen wurde und wie sie gelehrt werden kann. Wie sieht dann der Unterricht aus? 

Gruschka beschreibt Unterricht und Konzept Wagenscheins: 

 Die Schüler werden von Wagenschein in aller Konsequenz wie kleine Wissenschaftler behandelt. … In der Regel geht es in seinen Lehrgängen so zu, dass die Schüler weitgehend selbständig das Problem in seiner ganzen Komplexität erarbeiten. Sie erfinden im Prinzip das Rad neu. …
Den Schülern wird ein Phänomen vorgestellt bzw. ein sie gegebenenfalls reizendes Problem präsentiert. Die Frage, die das Phänomen aufwirft, soll sie überraschen, sie soll naive Deutungen provozieren und sie sogleich als nicht zureichend erkennbar machen. … Die Schüler und der Lehrer äußern Fragen und geben darauf Antworten, die bloß naiv klingen, von Unwissenheit nur oberflächlich künden, in Wahrheit so geartet sind, dass sie schnell in das Zentrum grundlegender Fragen der Physik und Mathematik rühren. Die heuristische Hilflosigkeit bezieht sich auf das Merkwürdige des plötzlich zum Problem gewordenen Phänomen. … Wir wissen alle, dass der Stein, den wir fallen lassen, in bestimmter Weise zu Boden fällt. Aber können wir auch erklären, warum er das tut? …
Zu all diesen Phänomenen und Fragestellungen produzieren die Schüler Erklärungen, verwerfen und produzieren sie Hypothesen und überprüfen sie. Wagenschein gibt Hinweise, wie man die Hypothesen verfolgen kann und er erschüttert Scheingewissheiten mit Blick auf experimentelle Überlegungen, die Täuschungen der Schüler belegen, ohne dass er freilich wie Sokrates als ‚Zitterrochen‘ auftreten würde.
Das didaktische Geschick besteht darin, den Bildungsgang genetisch auszukonstruieren. Wie muss also die Beweisführung oder der Erkenntnisgang strukturiert sein, dass er sowohl die interne Logik der Sache zu entfalten erlaubt, als auch den Erkenntnisgang der Schüler in seinen Phasen des Verstehens und Fragens widerspiegelt? … (Gruschka 2002: 427ff; ohne die Quellenangaben zu Wagenschein)

Die Pointe eines Unterrichts nach Wagenschein ist: Den Schülerinnen und Schülern den zu klärenden Sachverhalt möglichst unverstellt zeigen. „Rettet die Phänomene!“ (Wagenschein [1976] 1995) Die didaktische Inszenierung soll sich nicht zwischen Gegenstand und Schülerinnen und Schüler stellen, sie soll vielmehr den Blick auf den Gegenstand in einer Weise ermöglichen, die des Lehrers nur wenig bedarf, damit der Gegenstand sich selbst zeigt. Wagenschein bevorzugt deshalb solche Inszenierungen, in der die Entdeckung eines Sachverhaltes wiederholt wird. Die Schülerinnen und Schüler treten an die Stelle der alten Forscher. Sie entdecken für sich, was für alle schon entdeckt ist.
Dabei entsteht ein längeres sokratisches Gespräch mit und in der Lerngruppe (Ein Beispiel: Wagenschein 2009: 220-227). Das sokratische Gespräch, wie man es bei Nelson und Heckmann (Heckmann 1981) findet, bietet sich nach Wagenschein für Diskurse über Befremdliches und Rätselhaftes an.

Es muss also ein Phänomen da sein, das die Eigenschaft hat, dass man darüber stolpert, beim Aufnehmen. Man wundert sich, es ist rätselhaft, eine Sache, die im höchsten Mass erstaunlich ist. … Kann man das verstehen oder nicht? Das ist doch rätselhaft! Das Thema muss so sein, dass die sachliche Motivation gesichert ist, d.h. es ist nicht nötig, dass ich sage: jetzt passt mal schön auf, oder: das müsst ihr später haben für das sogenannte Leben, oder: das steht im Lehrplan, muss gemacht werden, sondern: seht euch das an, und dann sagt, was ihr meint, und dann geht es los. …
Man sitzt im Kreis, entschlossen, ein natürliches Problem aus eigener Kraft vollständig zu klären; gemeinsam, miteinander. … Jeder wird ernst genommen, was er auch sagt, in seiner eigenständigen Sprache, mit dem einzigen Ziel, den andern verständlich zu sein. Natürlich spricht ein Nachdenklicher oft unsicher, stotternd, ahnend. Keine Korrektur! Es gibt keine Meldungen, kein Aufrufen, kein Abfragen, keine Belehrungen, keine Vorträge, keine längeren Zwiegespräche. Der ständige Hundeblick auf den Lehrer verliert sich bald. Kein Widerspruch wird übergangen, keine Frage überhört. Man geht erst weiter, wenn es soweit ist. (Wagenschein, zitiert nach Aeschlimann 1999: 48)

Auch der Politikunterricht darf nicht voraussetzungslos im Kontext sozialwissenschaftlicher Theorien, Modellvorstellungen und Kategorien beginnen, sondern muss von den von Schülerinnen und Schülern wahrnehmbaren Phänomenen des Politischen ausgehen, um von dort her zu wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen zu kommen. Dieser Weg von der Welt der Phänomene zur Welt des Wissenschafts-Wissens und/oder Institutionen-Wissens muss Schülerinnen und Schülern durchschaubar sein. Das geht nur in einem exemplarischen Verfahren, das den Ausgang von einem Phänomen nimmt.

Man kann das Exemplarische Lehren vorläufig so definieren: Es erschließt einen „Gegenstand“ (der immer etwas Komplexes und Aufforderndes haben muss) im Sinne einer bestimmten Disziplin. Die mit dieser Eröffnung verbundene Einschränkung – des Gegenstandes wie des Erschließenden – soll dabei spürbar oder gar bewusst werden. Das Thema soll auf diese Weise also „ausstrahlen“ nach zwei Seiten hin: auf das Ganze der „geistigen Welt“ und auf das Ganze der Person des Lernenden.“ (Wagenschein [1963] 2009: 209)

Phänomene sind jedermann zugänglich oder können mit nur geringer didaktischer Zubereitung leicht zugänglich gemacht werden. Darin sind Elementaria zu suchen, die auch in anderen Phänomen gefunden werden, und so einen Beitrag zur Erschließung eines Systems des Wissens und Könnens leisten. Der innere Rhythmus dieses Unterrichts geht so:

Phänomen → Elementares → System

Der Politikunterricht kann nicht anders vorgehen. Der Bürger, der Politik interessiert verfolgt und an den wesentlichen politischen Handlungen selbstbestimmt teilnehmen kann, ist sein Minimalziel. Politik darf diesem Bürger nicht als eine Angelegenheit von Experten erscheinen, die ihm verschlossen bleibt. Natürlich wird auch dieser interessierte Bürger nicht jeden Politikbereich überblicken. Das gelingt hauptberuflichen Politikern auch nicht. Aber der zukünftige Bürger muss die Erfahrung gemacht haben, dass er im Prinzip in viele Bereiche der Politik hineinschauen kann, weil er an ausgewählten Beispielen, also im exemplarischen Verfahren, entsprechende Erfahrung gemacht hat.
Dieser demokratische Charakter von Unterricht und Wissenschaft gelingt dann, wenn das Lernen seinen Ausgang bei dem für den Laien sichtbaren Phänomen nimmt und von dort in das jeweilige System des jeweiligen Wissens vorstößt. Besonders an Rudolf Engelhardts Unterrichtsentwurf über die SPIEGEL-Affäre (Engelhardt 1964) lässt sich diese Qualität eines demokratischen Unterrichts zeigen: Vom öffentlich wahrnehmbaren politischen Phänomen geht der Weg über die Erfahrung der „kleinen“ Kontroverse im Klassenzimmer zur Kontroverse in der „großen“ Politik, ihren grundlegenden Problemen und von dort zu Institutionenwissen und Grundgesetz.

Im Mathematikunterricht kann der Satz des Pythagoras das Elementare sein, im Politikunterricht der Vorgang von Machtkontrolle und Gewaltenteilung und seine Notwendigkeit. Kann man die Ordnung der Institutionen noch einigermaßen schnell erklären, braucht die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Ordnung einen ausgearbeiteten didaktischen Zugriff.
Gewaltenteilung hat mit dem Wesen des Menschen, wie es sich in der Geschichte immer wieder zeigt, zu tun: Es gibt bei vielleicht jedem Menschen eine Schattenseite, die sich zeigt, wenn andere Menschen nicht immer wieder korrigierend auf ihn einwirken; wir bedürfen des Blicks der anderen, wenn wir uns selbst im Griff behalten wollen. Der Unterricht muss die Möglichkeit „fundamentaler“ Erfahrung geben. Diese „fundamentalen Erfahrungen“ zielen auf das, was als „existenzkonstitutiv“ anzusehen ist (Fischer 1972: 40), auf ein „Elementares“. Wer Einfluss in der Politik hat, verliert sich selbst, wenn er sich nicht im kritischen Blick der anderen erfährt. So schon die Kritik an der Monarchie in Herodots Verfassungsdebatte (Herodot [Historien III,80] 1957: 103). Deshalb müssen die Aufgaben des Einzelnen begrenzt bleiben, der eine Politiker ist für die Gesetze zuständig, der andere für das Regieren. Die notwendige Selbstbegrenzung des Einzelnen verlangt die Selbstbegrenzung der Institutionen, und die Zusammenarbeit der Einzelnen die Zusammenarbeit der Institutionen. Die Teilung der Gewalten hat ihren Grund in elementaren Erfahrungen, die jeder Einzelne mit sich selbst machen kann, auch in einer Unterrichtsstunde. Fundamente im Einzelnen und in der Sache werden hier berührt.

Ist der Ursprung der Gewaltenteilung in einem zur menschlichen Existenz gehörenden Misstrauen gefunden, so zeigt er zugleich die Möglichkeiten des Vertrauens: Schwierige Probleme können auf Dauer geregelt werden, der Einzelne wird entlastet. Politikunterricht und seelische Gesundung: Warum soll man das nicht zusammen denken können? Warum soll es nicht Aufgabe des Politiklehrers sein, hier einen Beitrag zu leisten?

Wagenscheins Konzeption von Unterricht kann für das Fach Politik dennoch nicht einfach übernommen werden: Eine Kerze, die im Chemie-Unterricht verwendet wird, soll Entdeckungen auslösen, die schon gemacht worden sind, und die nun nacherlebt werden sollen (Wildhirt 2008: 95 ff). Aber im Politikunterricht geht es nicht um ein schon gefundenes System von Wissen, denn das Wissen über den Gegenstand, der im Unterricht zur Sprache gebracht werden soll, ist oft so umstritten wie das, was mit dem Gegenstand geschehen soll.
Inwieweit die Naturwissenschaften die Welt erkennen, wie sie „ist“ oder nur bis zu Modellen vordringen, die auch mehrdeutig sein können, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Themen von Wagenscheins Unterricht liegen im Anfänglichen, im Unstrittigen, die des Politikunterrichts aber im Strittigen. Und auf diesen Unterschied kommt es hier an.
Deshalb kann man ein einfaches erkenntnistheoretisches Modell zugrundelegen und über die Voraussetzungen dieses exemplarischen Unterrichts in den naturwissenschaftlichen Fächern sagen:

  1. Es ist klar, um welche Welt es geht, denn sie ist objektiv vorhanden. Der Lehrer kennt sie.
  2. Es ist klar, wie der Welt das Wissen abgewonnen wurde. Der Lehrer weiß es.
  3. Es ist klar, um welches Wissen es geht, es ist längst gewusst. Der Lehrer kennt es.
  4. Es kommt nun darauf an, die Entdeckung oder die genetische Bewegung des Wissens so zu rekonstruieren, dass diese Entdeckung oder Darstellung der Sachlogik als Weg der Erkenntnis erlebt wird. Naturwissenschaftliche Forschung kann, wenn auch in Grenzen, im Klassenzimmer ganz real betrieben werden. Man experimentiert tatsächlich und bekommt auch tatsächlich Ergebnisse.

Aber was bedeutet das unterschiedliche Verhältnis der Natur- und der Sozialwissenschaften für den Unterricht? Was muss im Politikunterricht anders sein?
Politikwissenschaft versucht, die Regeln von Politik als polity, politics und policy, also der politischen Institutionen, der politischen Handlungen von politischen Zielen (Meyer 2000) herauszufinden. Die Schülerinnen und Schüler bekommen ihr erstes, für das Verstehen von Politik bedeutsamen Wissen in ihrer Alltagswelt. Der Politikunterricht hat seine Inhalte nicht nur angesichts von Politikwissenschaft und anderen Sozialwissenschaften zu rechtfertigen, sondern auch im Hinblick auf die Politik als Handeln in den für sie eingerichteten Institutionen.
Die Politikwissenschaft gehört als Wissenschaft von der Regelung des Zusammenlebens mit den anderen Sozialwissenschaften zu den Bezugswissenschaften des Politikunterrichts. Die Wissenschaften von den zu regelnden Sachverhalten selbst gehören natürlich auch in den Politikunterricht: Geht es beispielsweise um die Familie und um Familienpolitik, müssen auch die Wissenschaften befragt werden, die die Familie zum Gegenstand haben: Soziologie, Rechtswissenschaft, Pädagogik, philosophische und theologische Ethik.
Eine zweite Form des Wissens über Politik ist didaktisch besonders zu beachten: das Wissen des Praktikers. Um es an den deutschen Bundeskanzlern zu zeigen: Von den deutschen Bundeskanzlern sagt man nur Ludwig Erhard und Helmut Schmidt bedeutsame theoretische Leistungen nach. Aber alle waren – und sind – erfahrene Praktiker der Politik, die die Institutionen, in denen sie sich bewegten/bewegen, zu nutzen und die Apparate, die ihnen zur Verfügen standen/stehen, zu bewegen wussten/wissen. Dieses Wissen hat seine ganz eigene Art; jeder, der das erste Mal in einer Partei eine Versammlung leitet, merkt das. Jeder, der in der Versammlung eine Rede hören will, erwartet eine besondere Art, angesprochen zu werden. Und die Versammlung selbst muss zu einem Ziel gebracht werden, das Zustimmung findet. Wer sich das Wissen um diese Praxis aneignen kann, kann Einfluss erwerben, völlig unabhängig von seinen sonstigen Fähigkeiten.
Das Politikwissen ist also mehrgestaltig, Schüler sollten beide Arten von Wissen kennen.
Die Verschiedenheit des Wissensformen, auf die sich ein Unterricht über Natur und Naturwissenschaftsunterricht und ein Unterricht über Politikwissenschaft als Theorie und über Politik als Praxis beziehen, führt zu einem anderen, komplizierteren Verhältnis des Lehrers einerseits und der Schülerinnen und Schüler andererseits zu dem Wissen, um das es im Unterricht geht:

  1. Die Welt des Politischen ist eine Welt, die sich in ständiger Bewegung und Verwandlung befindet. Sie ist nicht gegeben, sie wird vielmehr im Konflikt gestaltet und darin kontrovers interpretiert. Dies ist dem Lehrer (etwas) besser bekannt als den Schülern.
  2. Es ist nicht sicher, wie das Wissen von der Welt des Politischen gefunden wird, wird es doch erst gefunden, wenn Politik gestaltet wird. Der Lehrer weiß das etwas besser als die Schüler, die dieses oft erst überhaupt noch lernen müssen.
  3. Es ist nicht sicher, um welches Praxis- und Theoriewissen über welche Gegenstände es in der politischen Welt geht, das ist vielmehr umstritten. Der Lehrer kennt den Streit um das Wissen etwas besser als die Schüler.
  4. Wie politische und politikwissenschaftliche (Er-)Kenntnis und die Erkenntnis der umstrittenen Themen gewonnen werden, ist auch nicht sicher bekannt, denn politische (Er-)Kenntnis und die Erkenntnis der umstrittenen Themen gibt es nur durch die politische Praxis selbst. Aber reale, eingreifende politische Praxis scheint im Klassenzimmer nur selten möglich zu sein. Und die Erkenntnis der Gegenstände hängt von Fragerichtung und -methode ab.

Exemplarischer Politikunterricht muss also nicht nur die Rekonstruktion eines Entdeckungsprozesses ermöglichen, er muss politische Erkenntnis durch die Konstruktion ihres Erkenntnisgegenstandes ermöglichen, also des Raums und der Gegenstände des Politischen. Der Akt der Rekonstruktion muss viel leisten: Die Welt der Politik muss von den Schülerinnen und Schüler darin erkannt werden, dass sie in einer sich immer wieder wiederholenden Reflexion sowohl der politischen Praktiker und der Theoretiker auf die Auseinandersetzung und ihre Gegenstände geschaffen wird. Es kann dabei aber nicht nur darum gehen, die gegebene gesellschaftliche und politische Gegenwart von den Schülerinnen und Schüler „erfinden“ und erleben zu lassen, denn dann „findet“ und erlebt er, was er schon kennt, versehen mit einigen seiner politischen Wünsche. Das wäre zu wenig.
Die in der gesellschaftlichen und politischen Welt schon gegebene Antwort muss vielmehr vom Schüler als Antwort auf eine ihm und von ihm selbst gestellte Frage rekonstruiert werden.
Diese Frage muss einen Prozess in Gang setzen, in dem die Schülerinnen und Schüler die Widersprüchlichkeit des gesellschaftlich-politischen Lebens als notwendige Widersprüche im eigenen Denken erfahren und zugleich den Zwang, diese Widersprüche zu entscheiden, damit sie so die Prinzipien jener Ordnung entwickeln, in der sie ihr Leben als lebenswert ermöglicht sehen.
Soweit es im Klassenzimmer eben möglich ist, muss Politik mittels eines politischen Phänomens, einer krisenhaft-konstruktiv verlaufenden Auseinandersetzung über einen Gegenstand von Politik selbst präsent gemacht werden. Das ist die Aufgabe der didaktischen Inszenierung. Dieses Phänomen muss die Fragen nach der politischen Ordnung und ihrer konkreten, fallbezogenen Ausgestaltung, nach den politisch einflussreichen Kräften und nach ihren Zielen enthalten.

Ein Weiteres ist zu bedenken: Die Politik scheint keine solchen Regelmäßigkeiten wie die Natur und die Naturwissenschaften zu kennen, alles ist jeden Tag anders, und dennoch ändert sich die Welt nicht von einem Tag zum anderen. Politische Probleme sind sogar in Tiefenschichten miteinander verwandt. :

In der Politik gibt es keine Wiederholung des Identischen; hingegen ähneln politische Probleme und Aufgaben einander vielfach. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere hingegen heißt: Politisches Handeln ist nicht eine betriebsame Hast von einer zur anderen Grundentscheidung. Anders gesagt: die dem Handeln zugrunde liegenden Prinzipien sind relativ stabil. (Fischer [1966] 1972: 60)

In der Vielfalt der Erscheinungen müssen Ähnlichkeiten erkennbar werden, sonst kann der (zukünftige) Staatsbürger nichts lernen, nichts beurteilen und nicht handeln. Politik, die den Schüler jetzt und zukünftig als Staatsbürger herausfordern soll, findet in realen Situationen statt. Eben deshalb muss der Unterricht reale politische Situationen zum Gegenstand haben. Ein Kanon der Lehrgüter ist dazu ungeeignet.

Die politischem Handeln zugrunde liegenden relativ stabilen Prinzipien sind und bleiben jedoch das Entscheidende. Wir meinen sie, wenn wir seit Jahr und Tag von „Einsichten“ als den Bildungsgehalten des Politischen Unterrichts sprechen. (Fischer [1966] 1972: 61)

Wie macht man nun exemplarischen Politikunterricht? Ein bemerkenswerter politischer Vorgang, der zur Stellungnahme herausfordert, wird vom Lehrer exponiert, von den Schülerinnen und Schülern in seinen Einzelheiten betrachtet, auf seine inneren Zusammenhänge hin gründlich durchdacht, um eine begründete Stellungnahme abgeben zu können. Und dabei werden auf andere Fälle übertragbare Kenntnisse und Erkenntnisse gewonnen und verallgemeinerbare Einsichten aufgespürt. Insoweit unterscheidet sich dieser Unterricht in seinen Prinzipien nicht von Wagenscheins Physikunterricht.

Von den Phänomenen zum Elementaren und zum System, von der Erfahrung zum Wissen führt der Weg. Wie ist das Wissen aus der Erfahrung heraus entstanden? Es geht also um die Genese des Wissens.
Welche Phänomene sind im Politikunterricht den Schülerinnen und Schülern zu zeigen? Es sollen jene Ereignisse sein, denen gegenüber der Einsichtige ein bestimmtes angemessenes Verhalten zeigt. Lassen sich in solchen Ereignissen Grundfiguren des Politischen benennen? Herodot wollte herausfinden, was die politische Welt der Griechen im Unterschied zu der der Barbaren im Innersten zusammenhält und schrieb deshalb seine Historien als „exemplarischen Fall der universalen menschlichen Geschichte“ (Bichler/Bollinger 2001: 15), damit angesichts des Peloponnesischen Krieges aus ihr gelernt werde. Religionen erzählen „heilige Geschichten“, die immer wieder nachvollzogen werden. Die biblische Schöpfungsgeschichte ist nicht deshalb „Ur-Geschichte“, weil sie aller Geschichte zeitlich voraus geht, sondern weil sie allem, was immer geschieht, zu Grunde liegt. Sie wiederholt sich als Ur-Ereignis in jedem Augenblick (Grothaus: 50). Philosophisch orientierte Geschichtsschreibung und Religionen können Ur-Ereignis-Geschichten erzählen, die für den Politikunterricht von Bedeutung sein können.
2.2 Die Gründung eines Gemeinwesens

An einer Gründungsgeschichte sind die Elementaria des politischen Zusammenlebens zu erarbeiten. Spranger koppelt hier die Genese der Sache mit der Genese des Bewusstseins von der Sache:

Heimatflüchtige Besatzung und Passagiere eines großen Ozeanschiffes steigen auf einer bisher unbewohnten Insel an Land, um sich dort für die Dauer niederzulassen (Gebiet). Die Hilflosigkeit und der Streit – um nicht zu sagen: der „Naturzustand“ – der ersten Tage lehren die Notwendigkeit, sich zu vertragen (Vertragswille). Man kommt in friedlicher Absicht zusammen (Konvent) und einigt sich dahin – zunächst vielleicht nur aus wechselseitigem wohlverstandenem Interesse –, unter Gesetzen zu leben, die alle anerkennen (Rechtsordnung). Was ist Recht? Soll jeder genau den gleichen Anteil am Arbeitsertrag haben? Oder soll der Ertrag so verteilt werden, daß jeder gemäß seiner Leistung bedacht wird? (Doppelgesicht der Idee der Gerechtigkeit.)
Wer sorgt dafür, daß das, was im zweiten Stadium gesetztes Recht ist, auch ausgeführt wird? Wer sorgt dafür, daß die vereinbarten Verhaltensregeln, die allgemein (ohne Ansehen der Person) gelten sollen (ideales Sollen), in „Kraft“ treten? (Spranger 1963: 59 und Spranger in May/Schattschneider: 19)

Tausend und mehr Menschen müssen eine staatliche Gemeinschaft gründen. Indem die Schülerinnen und Schüler sich als Passagiere probehandelnd denken, sollen sie sich über ihre eigenen politischen Bedürfnisse und Wünsche klar werden. Wie steht es nun mit Macht und Recht? Sie werden aus Existenzbedürfnissen abgeleitet, aber auch mit diesen Bedürfnissen begrenzt. Es handelt sich auch nicht um eine auf ihre Gelenkstellen reduzierte genetische Kurzfassung eines historischen Vorgangs. Die Genese dieses Verfahrens ist eine andere, eben die, die man „Existenzgenese“ nennen kann und Sachgenese und Individualgenese begründet und umfasst. Sie wird im Gespräch erarbeitet.

Der Zufall kann wollen, daß einmal ein Gleichheitsfanatiker, ein anderes Mal ein aristokratisch Denkender die Führung erhält. Wenn ein weiser Sokrates das Gespräch unvermerkt leitet, weiß er still für sich, daß weder der eine noch der andere ganz recht hat. So einfach sind eben die menschlichen Dinge nirgendwo und zu keiner Zeit.
Aber ein Gespräch belebt. Es versetzt die Beteiligten in Eifer, führt zu Rede und Gegenrede. Damit ist dann auch erreicht, daß jeder außer dem ganz Stumpfen das Thema zu seiner Sache, macht. Das ist aber nur ein anderer Ausdruck für Interesse haben, Interessiertsein. Die allzu eifrigen Gesprächsteilnehmer des Sokrates fallen manchmal ganz erheblich herein. Das schadet nichts. Wer sich die Sache, seine Sache, nicht schon von allen Seiten überlegt hat, wird meistens hereinfallen. Aber auf dem Heimwege überlegt er sie sich schon besser, und es kann passieren, daß er am nächsten Morgen anspruchsvoll als seine eigene Weisheit vortragen wird, was er vor kurzem noch als Torheit der anderen bekämpfte.
Der Gesprächsleiter, der auf dieses Ziel lossteuert, wird es dabei nicht leicht haben. Aber lernen wir, uns mit Sokrates zu trösten. In unseren Gesprächen wird gewiß manches Windei zutage kommen. Auch dies wollen wir mit Aufmerksamkeit betrachten. Denn solche Produkte gehören mit zur menschlichen Natur.
(Spranger 1963: 6f)

Es geht nicht in erster Linie darum, auf der Insel einen Staat mit allem, was dazu gehört, zu gründen und dann auch einzurichten. Es geht um das Gespräch über die Aufgaben, die bei einer Gründung zu bewältigen sind. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei verschiedene Positionen einnehmen, wobei sie die Perspektiven immer wieder wechseln können. Es geht eher darum, den Kopf für die verschiedenen Möglichkeiten offen und beweglich zu machen als darum, feste Ansichten zu gewinnen.
Der Unterricht über Politik soll jedoch in die Gegenwart führen:

Werfen wir zum Schluß einen Blick auf den Übergang zum Hauptkursus! Es muß natürlich dafür gesorgt werden, daß zuverlässige Kenntnisse über unseren gegenwärtigen Staat angebahnt werden. Das ist nicht möglich, ohne auch das heutige System der Großstaaten zu kennzeichnen. …
Man bemerkt, daß jedem Satz ein charakteristisches „heute“ oder „gegenwärtig“ oder „wir“ hinzugefügt war. Darin spiegelt sich der Methodenwechsel: wurde früher in Form von Konstruktionen vorgegangen, so treten jetzt Konstellationen in den Vordergrund. … Jetzt geht es um Tatsachen, um tatsächlich geltendes Recht einschließlich der Staatsverfassung und um ganz konkrete ethisch-politische Aufgaben, die und gerade hier und heute gestellt sind.
(Spranger 1963: 63)

Diese „Tatsachen“ sollen gelehrt und gelernt werden, sie sollen aber auch geprüft werden. Die anfänglichen Konstruktionen geben dazu den Maßstab, wie diese „Tatsachen“ sicher auch zur Kritik der Konstruktionen beitragen können. Hier gibt es ein Wechselverhältnis.
Gerade weil die eigene politische Geschichte keine Ursprungslegenden kennt, kann im Unterricht mit einem Entwurf eines Ursprungs gearbeitet werden. Spranger und Wagenschein kannten sich seit 1953 und bezogen sich in Veröffentlichungen aufeinander (Petrik in May/Schattschneider: 23ff). Wenn auch nicht klarist, wie groß der Anteil Wagenscheins an der von Spranger 1963 veröffentlichten Gründungsgeschichte ist, so ist doch sein Einfluss unübersehbar:

Spranger überträgt die Methodik Wagenscheins auf politisches Lernen: die exemplarische Gegenstandsauswahl, das genetische Lernarrangement und die sokratische Lehrerrolle. (Petrik in May/Schattschneider: 29)

Spranger entwarf damit ein zweipoliges Lehrstück zu Staat und Verfassung im Politikunterricht: Zuerst entwerfen sie Schülerinnen und Schüler von einer gegebenen Situationen her einen Staat (Konstruktion). Sie lernen Grundfragen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verstehen, weil sie sie selbst aufwerfen und beantworten müssen. Es geht in einer verfassungsgebenden Versammlung um Recht und Macht, um die Institutionen und Verfahrensregeln und um die Verteilung des gemeinsam Erzeugten. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Schülerinnen und Schüler sich auf eine bestimmte Lösung einigen. Es reicht aus, wenn eine Vielfalt von möglichen Lösungen besprochen wird, dabei werden Elementaria sichtbar, von denen her die Verhältnisse des jetzigen Staates besser verstanden und gelernt werden. Diese Verhältnisse sind immer schon gegeben: Die Ordnung des Staates, sein Recht, seine Wirtschaft und die in ihm geltenden Normen. Die „Konstruktion“ ermöglicht das Verstehen der „Konstellationen“, sie sind aufeinander bezogen. „Genetisch“ meint hier, dass die Schülerinnen und Schüler zuerst aus ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen ihre Welt schaffen, um von dort her an elementaren Problembereichen (vgl. Petrik in May/Schattschneider: 32) verstehen zu können, warum die Welt, in die sie hineingeboren sind, so und nicht anders gebaut ist. Sie sollen sich dabei keineswegs in schlichtes Einverständnis üben, sondern sie sollen nachvollziehen und bewerten können, warum der Staat, in dem sie aufwachsen, so und nicht anders aufgebaut worden ist. Sie lernen in einem bestimmten Rhythmus von „Konstruktion↔Elementares↔Konstellationen“ zu denken.

Tabelle 1: Typische Schrittfolge für alle Lehrstücke:
1. Die KonstruktionEine herausfordernde Situation, die die Schülerinnen und Schüler bewältigen und dabei eigene Vorstellungen, eigene Problemlösungen entwickeln: Institutionen, Normen, Regeln, Ratschläge, Klugheiten…
↕ Elementares als Brücken ↕
2. Die KonstellationenIn der Geschichte entstandene und bis heute als gültig vorgeschlagene Lösungen ähnlicher heutiger Situationen, die die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lösungen vergleichen und damit einen vertieften Einblick in gegenwärtige Lösungen gewinnen

Diese Schrittfolge ist für Lehrstücke grundlegend. Sie Kann die Aktfolge des ganzen Lehrstückes bestimmen, diese Schritte können sich innerhalb eines Lehrstückes auch mehrfach abwechseln.

Andreas Petrik hat die Gründung eines Gemeinwesens nach Spranger reinszeniert, ausführlich nachzulesen in Petrik 2013. Macht Spranger nur einen Vorschlag, erarbeitet Petrik eine genaue Gliederung des Unterrichts. Dieses Lehrstück hat in der Lehreraus- und fortbildung mit Recht schon eine große Verbreitung gefunden. Die „Dorfgründung“ ist dreistufig aufgebaut:

  1. Petrik lässt zunächst die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Vorstellungen vom Zusammenleben entdecken. Allerdings lässt er sie dazu schon in einer Dorfversammlung, für die eine Geschäftsordnung geschaffen wird, konkrete Themen aushandeln: Eigentum, Geld, Entscheidungsverfahren, Religion, Wirtschaft. Mit einem „Dorf-O-Mat“3 werden die Positionen der einzelnen Schülerinnen und Schüler so abgeglichen, dass sich Gruppen von Gleichgesinnten bilden können.
  2. Die Schülerinnen und Schüler lernen eine konkrete Landkommune kennen und klassische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle. „Im szenischen Spiel gestalten die Auswanderer ihr Dorf nach Ideen von Adam Smith (Liberalismus), Edmund Burke (Konservatismus), Karl Marx (Sozialismus) und Pierre Joseph Proudhon (Anarchismus).“ (Petrik 2004: 277) Sie vergleichen ihre vorher entworfenen Modelle mit denen der theoretischen Klassiker.
  3. In einer Fishbowl-Diskussion auf Einladung eines wichtigen Fernsehsenders werden von den Schülerinnen und Schülern Fragen der Ausgestaltung von Politik und Gesellschaft in Deutschland erörtert: Es geht wieder um Eigentum, Geld, Entscheidungsverfahren, Religion und Wirtschaft, aber nun auf dem Hintergrund der schon geklärten Voreinstellungen und ihrer Prüfung anhand der theoretischen Klassiker. Mit dem Politikwissenschaftler Fukuyama und seiner These vom Liberalismus als dem Ende und dem Ziel der Geschichte klingt eine Bilanzdiskussion aus. (Petrik 2013: 300-314)

Petrik hat sich von Sprangers Rhythmus „Konstruktion↔Elementares↔Konstellationen“ anregen lassen. Er hat ihn ausgestaltet und tief durchgegliedert. Die Voreinstellungen der Schülerinnen und Schüler werden nicht nur zur Kenntnis genommen und diskutiert, sondern sie werden als Teile von verbreiteten Gesellschaftsbildern erfahren und mit klassischen Theorien konfrontiert. So gewinnen die Lernenden Einblicke in ihren eigenen, subjektiven gesellschaftlichen Standort und seinen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewegungen.

Die Lehrerinnen und Lehrer gewinnen aus den Schülerargumentationen Erkenntnisse zum politischen Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler. Petrik entwickelt aus dem Grad der Annäherung der Argumentationen an entfaltete Gesellschaftsbilder in Anlehnung an Lawrence Kohlberg (Oser/Kolberg 48ff) vier entwicklungslogische Niveaus:

1. Das elementare private Niveau ist an konkrete Personen, Bedürfnisse und Situationen gebunden. Es entspricht einer vorpolitischen und vorargumentativen autoritäts-, ego- oder gruppenzentrierten Perspektive auf Gesellschaft. …
2. Das öffentliche Niveau setzt die Akzeptanz gesellschaftlicher … Problemstellungen und kontroverser Lösungsvorschläge voraus. Das Individuum ist bereit, das eigene politische Denken als begründete Position zur Diskussion zu stellen. …
3. Das institutionelle Niveau ist an ein Verständnis für personen- und gruppenübergreifende Regeln und Institutionen gekoppelt. Demokratische Verfahren und Brückenprinzipien werden als Voraussetzung für friedliche Konfliktlösung angesehen. …
4. Das systemische Niveau ermöglicht die analytisch-kritische Meta-Betrachtung privater, öffentlicher und institutioneller Argumentationen. Sozialwissenschaftliche Theorie (z.B. Wertwandelforschung und Argumentationstheorie) wird als Hilfe zur Erklärung und Evaluation eigener und fremder politischer Konflikte herangezogen. Ein elaboriertes systemisches Niveau, das in der Schule nur bedingt zu erreichen ist, bezieht zusätzlich die methodische Generierung und Angemessenheit des genutzten Wissens ein. (Petrik 2012: 17)

Hier zeigt sich ein Instrument, mit dem der Politiklehrer den Erfolg seines Unterrichts und den Entwicklungsgang seiner Schülerinnen und Schüler interpretieren kann.


3. Lehrstücke im Politikunterricht
3.1 „In eine neue Welt“
Wolfgang Hillligen hat die Entwicklung von Lehrkunstdidaktik im Politikunterricht mit seiner Unterrichtseinheit „In eine neue Welt“ über die Pilgerväter und die Mayflower mit vorbereitet. Aus einem Gespräch zwischen Wolfgang Hillligen, Tilman Grammes und Hans Christoph Berg über Lehrstücke im Politikunterricht (Juli 2000):

Grammes: Warum nun ist Wolfgang Hilligen heute hier in einer Werkstatt über Lehrkunst und Lehrstücke zu Gast? Nun, weil er Lehrkunstdidaktiker der allerersten Stunde ist. Ich zitiere aus den Eingangssätzen der großen „Didaktik“. Dort definiert uns Wolfgang Hilligen die Aufgaben der Didaktik und der Fachdidaktik folgendermaßen:
„Didaktik fragt: … Welche Ergebnisse und Erkenntnisse der (Sozial)- Wissenschaften sind von so allgemeiner Bedeutung für das Leben, dass sie jeder lernen muss, wenn er befähigt werden soll, sein Dasein in einer Zeit weltweiten Wandels zu bewältigen? Anders formuliert: Es ist in erster Linie der Bezug auf Existentielles, der eine Frage zu einer Didaktischen macht. Didaktik ist die Spezialwissenschaft für die Analyse des Bedeutsam- Allgemeinen.“ Schlüsselthemen, Menschheitsthemen. Ich meine, das ist in anderen Worten eine frühe Formulierung des Kerngehalts von Lehrkunstdidaktik. …. Sie hatten als die allgemeinste Frage politischer Bildung das Problem bestimmt, die Menschheitsfrage, wie wir Menschen, die wir alle verschieden sind und unterschiedliche Interessen haben, trotzdem in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften zusammenleben können, ohne uns zu bekriegen. Dafür benötigen wir Regeln und Regeln können gesichert werden nur durch Institutionen. Und das ist das Kerngeschäft, das Proprium des Politischen. Ich habe in den verschiedenen Ausgaben Ihres Schulbuches „Sehen - Beurteilen - Handeln“ … Lehrstücke entdeckt, die Sie auch immer wieder reinszenieren, leicht variieren, wo diese Frage nach den Regeln, die wir uns freiwillig geben, also Demokratie, im Zentrum steht.
Hilligen: Also beginnen wir bei der Mayflower, weil es da auch vom Dokument her ganz eindeutig ist. Wenn man nach Boston kommt und geht dann ins Gelände, wo man die Rekonstruktion der Hütten sieht. Und wenn es jetzt dem Lehrenden gelingt, diese Situation - dieses Angekommensein vor einem harten Winter, immerhin ein Drittel sind gestorben im ersten Winter - Was ist jetzt besonders nötig? Das Reduzieren auf eine reale politisch-geschichtliche Situation mit Bezug auf das, was an Politik, nämlich an auch politischen Aufgaben, da drinsteckt. Und da kommt man dann sehr schnell wieder auf das, worauf es ankommt. Alle politischen Aufgaben lassen sich an diesem Mayflower-Beispiel zeigen bis hin zu den ersten Versuchen für eine Verfassung, die dann in der großartigen Formulierung „We hold these truths to be selfevident that all men are created equal“ münden.
Berg: Ich sehe in dem, was Sie als Pulsschlagtheorem formuliert haben, eine weitere sehr wichtige Lektion. Sie haben gesagt, es muss immer wieder die Aktualität hereinkommen. Aber die Aktualität muss sich zu generellen Grundeinsichten, Grundfiguren verdichten. Daraus kommt für mich eigentlich jedes Mal das Grundbild einer solchen Ellipse aus dem Generellen und dem Aktuellen. Die Aktualität muss wechseln, sozusagen wie wenn sich die Ellipsen um ein gemeinsamen generellen Kern allmählich entwickeln, so dass man fast eine Schar von Ellipsen hat, immer sozusagen im Standbein des einen und dann wechselnde Aktualität, Variation: Thema mit Variation. Das wäre für mich eine wunderbare Grundfigur für solche Lehrstücke, bei denen verschiedene Lehrer und Lehrerinnen das Thema, die Figur des Lehrstücks, an dem sie arbeiten, immer wieder neu variieren, also nicht Thema mit Variationen, sondern Grundfiguren in Variationen. Das ist das Eine, wo ich denke, da können wir eine große Lehre von Ihnen vielleicht in diese Lehrstückkomposition hereinholen. … Und nun haben Sie für mich noch etwas eingebracht, und das war diese atemberaubende Geschichte, wo Sie sagen, „Sehen - Beurteilen - Handeln“ ist durch den späteren, durch diesen unglaublichen Johannes XXIII. weitergegeben worden aus der Arbeiterpriesterbewegung. Unglaublich! Das hat für mich ein Tor nach rückwärts geöffnet, etwas, was ich durch Willmanns Formulierung der organisch-genetischen Lehrmethode stärker kennengelernt habe. Er greift ja ausdrücklich auf die scholastische Lehrart zurück, in der das Kontroversprinzip für mein Gefühl bis zur absoluten Meisterschaft getrieben wurde. Das klassische Lehrbuch heißt eben „Sic et non“. Wer nicht imstande ist, das Ja und das Nein, nicht das Ja oder das Nein zu formulieren, der ist noch nicht reif. Und dann geht ́s weiter. Nach dem Ja und Nein kommt …, jetzt muss ich meine persönliche Summa ziehen: Nachdem ich Ja und das Nein gegeneinandergesetzt habe - und zwar beides so authentisch, dass ich in dem Lernprozess selbst nicht weiß, bin ich Männchen oder Weibchen. Danach wird der Strich druntergezogen und jetzt muss ich aber auch Farbe bekennen und muss mich aber auch selbst wieder neu zur Diskussion stellen. Diese scholastische Lehrfigur finde ich, haben Sie ganz neu und für die Politik formuliert. … Das könnten wir aus der von Ihnen so weit entwickelten Politikdidaktik direkt in die Dramaturgie der Lehrstücke überführen. (Grammes 2004, ohne die Quellen; HL)


Abb. 1: Die Mayflower
Wolfgang Hilligen greift in seinem Schulbuch „sehen-beurteilen-handeln“ für die fünften und sechsten Klassen auf die Pilgerväter zurück, um den Schülerinnen und Schüler in der ersten Unterrichtseinheit zum Auftakt nicht nur des Buches (Hilligen/George 1975a: 3-6), sondern auch des Faches an diesem Exempel Anregungen für Herausforderungen, Chancen und Gefahren von Gegenwart und Zukunft zu geben. Diese Menschen haben jene Probleme zu lösen, die Menschen immer zu lösen haben, nun allerdings in geballter Form: Alles steht neu zur Frage. Die Herausforderungen, die Gefahren und die Chancen der Gegenwart werden verfremdet zu Herausforderungen der Vergangenheit, damit das Muster von den Schülerinnen und Schülern für die Gegenwart erkannt werden kann4. Auf diese Weise soll ein an dieser Denkbewegung orientierter Algorithmus eingeübt werden. Auszüge aus der Unterrichtseinheit:

In eine neue Welt…
Absicht: Das Kapitel will zeigen, welche schwierigen Fragen Menschen zu regeln haben, die in einer neuen Welt leben wollen.

1. Ein Schiff verlässt das Königreich England 
Im November 1620 landete an der Ostküste von Nordamerika in der Nähe der heutigen Stadt Boston ein Segelschiff, die Mayflower, mit über hundert Menschen an Bord. Die Männer, Frauen und Kinder, sie wurden später „Pilgerväter“ genannt, waren in England wegen ihres Glaubens unterdrückt worden. Sie wollten im neuentdeckten Amerika ein neues Leben beginnen. Die Gegend, in der sie gelandet waren, war fast menschenleer; später entdeckten sie einige Indianersiedlungen. Es gab Wälder, Wiesen, Bäche und Flüsse. Aber das half den Pilgervätern wenig. Sie hatten kein Dach über dem Kopf, das Schnee und Kälte abhalten konnte, es gab keine Geschäfte für Nahrungsmittel oder Werkzeuge; es gab keinen Arzt für die Kranken. Sie waren auf das angewiesen, was sie mitgebracht hatten: einige Werkzeuge, Nägel, Hämmer, Sägen, Jagdflinten, harten Zwieback, Saatgut für ein Jahr.
Was werden die Einwanderer zuerst getan haben, um im ersten Winter zu überleben?
Die Pilgerväter erhielten zwar Hilfe von Indianern – heute noch steht in Plymouth das Denkmal des lndianerhäuptlings Squanto, dem sie am meisten Hilfe verdankten –, im ersten Winter aber starb mehr als ein Drittel der Männer, Frauen .und Kinder an Kälte, Krankheit, an der ungewohnten Nahrung.

2. Welche Aufgaben hatten die Einwanderer gemeinsam zu lösen?
Im Frühjahr 1621 begannen die Pilgerväter mit dem Ausbau ihrer kleinen Kolonie.
Welches waren ihre wichtigsten Bedürfnisse? Was mußte alles geregelt werden?
Soll jede Familie ein Stück Ackerland für sich allein nehmen und es bebauen? – Sollen alle für ihren Bedarf jagen? Soll jede Familie selbst spinnen, weben, gerben, nähen? Oder sollen einige Arbeiten von Menschen getan werden, die sie besonders gut ausführen können? Das heißt (d. h.): Soll eine Arbeitsteilung stattfinden?
Auf vielen Gebieten hatten sich die Einwanderer zwischen zwei oder mehr Möglichkeiten (Alternativen) zu entscheiden.
Die wichtigste Entscheidung aber war:
W E R soll die Entscheidung fällen?
Es gibt zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Möglichkeiten:

EINER, der König, wie z. B. damals in England – oder eine kleine Gruppe, die Adligen, die Reichen, die Vorsitzenden e i n e r Partei, fällen alle Entscheidungen.
ALLE entscheiden darüber, was geschehen soll und wie es geschehen soll; zumindest werden alle an der Entscheidung beteiligt.

3. Die Gleichheit und die Freiheit blieben unvollendet….
Was die Pilgerväter beschlossen hatten, galt damals in ähnlicher Weise auch in anderen nordamerikanischen Kolonien und Siedlungen. In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1776 heißt es: ,,Wir halten die folgenden Wahrheiten für selbstverständlich: daß alle Menschen als gleiche geboren werden, daß sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten versehen sind, darunter Leben, Freiheit und der Anspruch auf Glück …“
Die Nachkommen der europäischen Einwanderer haben die Gleichheit freilich nicht gegenüber allen Menschen verwirklicht: gegenüber den Indianern nicht, die bis auf Reste ausgerottet wurden; gegenüber den Negern nicht, die bis vor fast hundert Jahren als Sklaven lebten und heute noch keine gleichen Chancen besitzen. Heute sind die USA zwar das reichste Land der Erde, aber ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Armut, darunter viele Neger.

4. Heute und morgen – eine bessere Welt?
Heute haben wir in Europa durch Technik und Wissenschaft viele der Probleme gelöst, die den Pilgervätern große Schwierigkeiten bereiteten.
Welche Probleme haben wir nicht mehr?
Dafür haben die Menschen neue Gefahren für das Überleben, für ein Leben ohne Not und Gefahr, für ein Leben in Gleichheit und Freiheit entstehen lassen.
Welche Mißstände und Gefahren lassen sich aus den fünf nebenstehenden Abbildungen ablesen? …

Auf den Abbildungen sind eine Atombombenexplosion, hungernde afrikanische Kinder, eine Karikatur (Ein Schild: „Achtung, Sie verlassen den demokratischen Sektor der Bundesrepublik“ am Eingang einer Fabrik, die Arbeiter am Pförtner vorbei betreten), eine hässlicher Hinterhof einer Mietskaserne und ein am Boden kriechender Mann, der nach Frischluft sucht, zu sehen. Sie sollen die Herausforderungen der Gegenwart den Schülerinnen und Schülern nahe bringen.
Über Spranger hinaus gibt Hilligen der Gründungssituation einen konkreten historischen und geografischen Ort. Zusätzlich gliedert er die zu lösenden Aufgaben in vier Schritte auf:

  1. Das Überleben,
  2. das Regeln und Gestalten damals und heute,
  3. was noch zu tun ist
  4. die neuen Herausforderungen der Gegenwart.

Im zweiten Schritt muss von den Schülerinnen und Schülern mehrmals ein nicht zufällig ähnlich - weil in der Sache selbst liegend - wie von Spranger entworfener Rhythmus von „Konstruktion↔Elementares↔Konstellationen“ durchlaufen werden: Bei der Verteilung des Eigentums und der Produkte der Arbeit, der Arbeitsteilung, der Erziehung der Kinder, dem Strafrecht, der Versorgung der Alten und Kranken und der politischen Ordnung. Es geht immer um Elementaria, die die Schülerinnen und Schüler zugleich in ihren Entwürfen und in der sie umgebenden Welt finden. Wie bei Spranger wäre es falsch, die Alternativen in der Klasse zur Entscheidung zu bringen. Sie sollen vielmehr anfänglich lernen, in Alternativen die für Hilligens Didaktik typische Schrittfolge „Herausforderungen - Gefahren - Chancen“ bei der Befriedigung von Bedürfnissen und bei der Organisation des politischen Zusammenlebens zu denken, und zweitens einen Überblick über die gesamte Themenbreite des Faches bekommen (s. Hilligen/George 1975b: 16f).

Diese Unterrichtseinheit sollte jeder Politiklehrer unterrichten können. Die von Hilligen angestrebten Ziele werden in einer diskussionsfreudigen Lerngruppe erreicht. Allerdings ist eine Überarbeitung der Unterrichtseinheit erforderlich:

  • Ästhetisch: Sie sieht, wie sie im Buch gedruckt ist, einfach nicht gut aus.
  • Methodisch: Die Fragenkataloge müssen geordnet werden.
  • Inhaltlich: Die Pilgerväter sind eine homogene Gruppe. In der Gegenwart geht es aber um das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkünfte.
3.2 Grundbegriffe und Konzept der Lehrkunstdidaktik
Herodot ist verzweifelt: Wie immer ein Staat nach dem Sturz eines Tyrannen organisiert wird, mit bestem Willen, am Ende zwingt ein Herrscher nach seinen Interessen allen Bürgern seinen Willen auf. Dann gibt es eine Revolution und alles fängt von vorne an. Im Dreieck sitzen sich drei Gruppen gegenüber, um eine neue Verfassung auszuhandeln, nachdem ein Tyrann ermordet worden ist. Als Rollenkarten haben sie die Beiträge der Monarchisten, der Oligarchen und der Demokraten bekommen, wie Herodot sie 430 v. Chr. aufgeschrieben hat ([Historien III,80] 1957: 103). Die Schülerinnen und Schüler sollen den Staat besser einrichten, aber sie scheitern auch: Der Monarch will nicht nachgeben („Ich bin nun mal der Beste von allen!“), die Oligarchen halten sich auf allen Gebieten für besonders fähig, das Volk kämpft zwar darum, sich durchzusetzen, scheitert aber immer wieder am dem Argument der beiden anderen Parteien, es sei viel zu unwissend für die große Politik.
Die Verhandlungen dürfen aber nicht scheitern, denn dann droht ein Bürgerkrieg. Also werden die Verhandlungen in kleinen Gruppen fortgesetzt. Wie kann man eine Verfassung schaffen, mit der die verschiedenen sozialen Gruppen einverstanden sein können? In diesen kleinen Gruppen gelingt dann der Durchbruch…

Hat sich die Politikdidaktik vor 50 Jahren erst bei Martin Wagenschein (Fischer 1965: 24) und dann bei Wolfgang Klafki ihr Werkzeug geholt, dann kann es für sie auch heute sinnvoll sein, sich dort wieder umzusehen, wo diese Patendidaktiken jetzt stehen. Dazu ist es erforderlich, die immer noch neue Lehrkunstdidaktik vorzustellen. Sie entstand, als von Hans Christoph Berg in seinen Seminaren für Lehrerstudenten nicht mehr nur Wagenscheins didaktische Texte gelesen wurden, sondern seine Unterrichtsberichte nachvollzogen wurden: Sie wurden einstudiert, nachgebaut, kritisch überprüft und immer wieder optimiert.
Lehrkunstdidaktik entwickelt solche Unterrichtseinheiten, die kulturell wesentliche Lernereignisse im Klassenzimmer reinszenieren. Herodots Problem ist auch immer noch unser Problem: Wir wollen ein politisches System, das effektiv arbeitet, in dem sachkundige und kluge Menschen einen großen Einfluss haben und an dem das Volk angemessen beteiligt ist, was immer das im Einzelnen bedeutet. Herodots Terminologie prägt das europäische politische Denken bis heute. Vielleicht gelingt es mit Herodot, bei den Schülerinnen und Schülern Verständnis für gegenwärtige Probleme und Lösungen unserer politischen Systeme zu schaffen.

Lehrkunstdidaktik ist Lehrstückdidaktik. Der Unterricht steht im Zentrum der Lehrkunstdidaktik: „Eine Sternstunde der Menschheit im Unterricht wieder aufleuchten und einleuchten und weiterleuchten lassen.“ (Berg 2003) Mit dieser Formel beschreibt Berg das Besondere der Lehrkunstdidaktik. Mit einigen „Grundbegriffen“ von Theodor Schulze (Berg/Schulze 95: 363-400, bearbeitet, umgestaltet und ergänzt mit einer Definition von Susanne Wildhirt 2008; HL) soll hier ein kurzer Überblick geschaffen werden:

Menschheitsthema: Das Lernereignis, das wir rekonstruieren, soll ein Thema betreffen, das die Menschen anhaltend und immer wieder neu beschäftigt hat als ein Gegenstand der Neugier, des Empfindens und des Nachdenkens, der wissenschaftlichen Untersuchung, der künstlerischen Gestaltung und des öffentlichen Interesses - beispielsweise die Bewegung der Gestirne oder die Vielfalt der Blüten, die Eigenart der Zahlen oder das Ebenmaß von Körpern, die Schwerkraft oder das Licht, die Entstehung des Lebens oder das Zusammenleben der Individuen, die Herstellung der Gerechtigkeit oder die Schrecken des Krieges. Wir suchen einen Punkt in der Geschichte auf, von dem aus eine Strecke vorausgegangener Erfahrung und eine Strecke zukünftiger Entwicklung überschaubar und einsichtig wird.
Kollektive Lernereignisse: Was ist ein kollektives Lernereignis? Es liegt in der Natur der Sache, dass es nicht möglich ist, hier enge definitorische Grenzen zu ziehen, und dass es immer auch eine Angelegenheit der Einstellung und Einschätzung ist, ob man einem bestimmten Lernvorgang den Rang eines kollektiven Lernereignisses zusprechen will. Wir haben uns immer wieder drei Fragen gestellt: Ist das Thema dieses Lernvorgangs ein Menschheitsthema? Erschließt es einen größeren thematischen Bereich? Und: Wird in ihm eine genetische Schwelle oder Stufe überschritten?
Schlüsselthema, exemplarischer Charakter und thematische Landkarte: Die spezielle Fassung, die das Thema in dem Lernereignis erfährt, die Problemstellung, die zur Lösung des Problems führt, trägt nicht nur zur Lösung dieses einen Problems bei, sondern eröffnet den Zugang zu einem größeren Bereich und die Aussicht auf umfassendere Zusammenhänge. Der Ausdruck „Schlüsselthemen“ verweist auf die gelungene Lösung von Problemen, die wir uns zunutze machen können und auf die wir neue Handlungsmöglichkeiten aufbauen. Martin Wagenschein spricht in dieser Hinsicht auch vom „exemplarischen Charakter“ eines Themas oder einfach vom „Exemplarischen“. Es handelt sich bei dem Exemplarischen um ein besonderes Besonderes, um ein durch Neugier und Geschichte ausgezeichnetes Beispiel, das einen Zugang eröffnet. Außerdem ist das Exemplarische eine dialektische Figur. Sie vereinigt das Moment der Konzentration, Zusammenziehung und Verdichtung mit dem der Öffnung, Erschließung und Erweiterung. Die Figur ist gleichsam sternförmig angelegt, und je mehr Strahlen sich in ihr kreuzen, desto stärker ist ihre exemplarische Potenz. Das Moment der Öffnung und Erschließung bezieht sich zunächst auf ein begrenztes und in einer bestimmten Weise bearbeitetes Feld beziehungsweise auf eine in diesem Feld vorherrschende Arbeitsweise - disziplinär, dann aber auch auf alle möglichen anderen Felder und andersartigen Arbeitsweisen - interdisziplinär. Es hat sich als nützlich erwiesen, sich die Erschließungsdimensionen eines Schlüsselthemas in einer „Thematischen Landkarte“ zu vergegenwärtigen (s. → 65, 96 und 84; HL).
Lehridee: Eine Erkenntnis nachvollziehbar auf den Weg zu bringen, das ist die entscheidende Leistung einer Lehridee. So erzählt sie keine Geschichte. Sie entwirft eine erschließende Handlungsfigur. Eine Lehridee ist ein einfacher Gedanke, eine einfache Vorstellung, eine einfache Aufgabe, eine einfache Handlungsanweisung, die in das Zentrum des zu erschließenden Lernereignisses hineinführt.
Lehrstückkomposition: Ein Text, der das Wesentliche eines Lehrstücks in verdichteter Form darlegt (Wildhirt: 287). Die Lehridee ist zu einer Handlung ausgestaltet, in der ein interessantes Phänomen eine Sogfrage hervorruft, die dem weiteren Verlauf des Lehrstücks eine zumindest grobe Struktur gibt und eine Handlung ermöglicht, die die Erschließung eines originalen Materials zum Ziel hat. Die Schülerinnen und Schüler gewinnen in der Nach-Entdeckung eines wesentlichen menschheitlichen Lernvorganges einen kategorialen Zugriff auf einen wichtigen Gegenstandsbereich und schaffen sich auf diese Weise eine neue grundlegende Denkfigur (nach Wildhirt: 31ff). Mit der Lehrstückkomposition wird das Lehrstück weitergegeben. Jede Neuinszenierung eines Lehrstücks baut die Lehrstückkomposition aus, variiert sie unter den konkreten Bedingungen der Lerngruppe und des Lehrers und verändert sie.
Genetische Schwelle oder Stufe: Mit dem Ausdruck „Genetische Schwelle oder Stufe“ weisen wir zunächst hin auf ein Hindernis, das sich in den Weg teilt, auf eine Schwierigkeit, die zu überwinden ist. Es geht nicht einfach geradeaus weiter. Genauer besehen handelt es sich um den mühsamen Prozess einer Umformung oder eines Neuerwerbs. Eine alte Gewohnheit muss in eine neue umgeformt, ein vorhandenes Schema erweitert, eine kognitive oder enaktive Struktur verändert werden. Wir können auch sagen, dass es sich bei dem Lernprozess um eine Bewegung in mehreren Dimensionen handelt, gleichsam um eine aufsteigende Bewegung.
Produktive Verwirrung: Damit neue Denk- und Sehgewohnheiten entstehen können, müssen ältere erschüttert werden, und damit eine Erkenntnis in die Tiefe dringen kann, ist es erforderlich, eine Oberfläche aufzubrechen. Scheinbar Selbstverständliches wird infrage gestellt und damit eine Bewegung in Gang gesetzt. Sokratische Methode.
Vorbereitung eines Fruchtbaren Moments: Das Entscheidende, worauf es bei der Lehrkunst ankommt, läßt sich nicht einfach herstellen: der fruchtbare Moment. Das ist der Moment, in dem das Lernen in jedem einzelnen Lernenden in Gang kommt, in dem die Umstrukturierung, die Umwendung stattfindet. Man kann die begünstigenden Bedingungen, die begleitenden Umstände und die nachträgliche Erinnerung an den Vorgang beschreiben; aber man kann den Vorgang selber nicht herstellen. Man kann ihn nur vorbe- reiten und auf den Augenblick, in dem er einsetzt, achten und den dann folgenden Vorgang unterstützen. Das bedeutet aber nicht, dass es nichts zu tun gäbe oder dass man nichts zu tun hätte. (Nach Copei 1955)
Einwurzelung: Der Begriff soll darauf hinweisen, dass es nicht genügt, wenn die Schülerinnen und Schüler etwas zur Kenntnis genommen oder auswendig gelernt und in ihrem Gedächtnis gespeichert haben. Ein Ziel der Lehrkunst ist, dass das Gelernte in die Peron eindringt, nicht nur in das Gedächtnis, auch in das Gefühl und die Phantasie, so dass man von ihm träumen kann, und dass es wirksam wird, dass sich an ihm ein anhaltendes Interesse entwickelt und dass die Beschäftigung mit ihm immer weitere Kreise zieht.
Konzept: Der Begriff des Konzepts bezieht sich nicht nur auf Kognitionen. Wir übernehmen als einen zentralen Begriff den des „Erschließen“ in seiner dreifachen Bedeutung. Es geht zum einen darum, ein Konzept zu erschließen, aber auch darum mithilfe dieses Konzepts ein weiteres Umfeld, einen Bereich menschlicher Tätigkeit, ein Stück Welt zu erschließen und damit zugleich einen Anteil der eigenen Möglichkeiten, ein Stück Selbst. Und wenn wir sagen, dass in einem Lehrstück ein Konzept erschlossen werden soll, dann heißt das: Es ist nicht damit getan, ein Konzept zu benennen oder zu beschreiben oder zu erklären. Es muß erarbeitet werden; es muss an die Stelle eines anderen bereits vorhandenen Konzepts treten oder sich neu einwurzeln und zu arbeiten beginnen.

Die Schülerinnen und Schüler entwickeln gemeinsam mit den Entdeckern, Forschern und Entwicklern diese Arbeit an den Menschheitsthemen so eigenständig wie möglich, um sie sich für ihre Gegenwart und Zukunft anzueignen. Die Lehrkunstdidaktik folgt darin Heinrich Roth:

Kind und Gegenstand verhaken sich ineinander, wenn das Kind oder der Jugendliche den Gegenstand, die Aufgabe, das Kulturgut in seiner „Werdensnähe“ zu spüren bekommt, in seiner „Ursprungssituation“, aus der heraus er „Gegenstand“, „Aufgabe“, „Kulturgut“ geworden ist. Darin scheint uns das Geheimnis und Prinzip alles Methodischen zu liegen. Indem ich nämlich – und darauf kommt es allein an – den Gegenstand wieder in seinen Werdensprozeß auflöse, schaffe ich ihm gegenüber wieder die ursprüngliche menschliche Situation und damit die vitale Interessiertheit, aus der er einst hervorgegangen ist. Obwohl er unter Umständen inzwischen in eine akademische Ferne und Lebensunberührtheit entrückt ist, die diesen Ausgangspunkt gar nicht mehr wahrhaben will, wird er durch diese pädagogische Rückführung in die Originalsituation wieder das, was er einst war: Frage, Problem, Not, Schaffenslust. …

In diesem methodischen Prinzip steckt der Kunstgriff, Kind und Gegenstand so aufeinander zu beziehen, daß sie einander nicht mehr loslassen, sondern ins Gespräch kommen und miteinander zu leben beginnen. Nur auf diese Weise entwickeln sich spontane Beziehungen zwischen beiden, und das hat eine Methode des Unterrichts zu leisten. Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Erfindungen und Entdeckungen, Werke in Schöpfungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in Aufgaben …
(Roth 1965: 116)

Wo immer in der Geschichte des menschlichen Lernens und Entdeckens ein bedeutender, bis heute prägender Schritt gemacht wurde, legt sich für einen Lehrkunstdidaktiker sofort die Frage nahe: „Können wir für die Schule an dieser Entdeckung lernen, wie wir eine für uns wichtige Sachen erschließen können?“ Es gibt nun keinen Bereich des Wissens und Könnens mehr, der von der Lehrkunstdidaktik nicht für die Suche nach Lehrstücken gesichtet werden könnte. Damit ist Wagenschein-Unterricht auch im Politikunterricht prinzipiell möglich.

Die Schlüsselthemen, mit denen sich die Lehrkunstdidaktik beschäftigt, helfen dabei, den Schülerinnen und Schülern ein Fundament für die Bewältigung ihrer Zukunft zu geben. Diese Menschheitsthemen sind schon im Lehrstück ins Verhältnis zu Gegenwart und Zukunft der Schülerinnen und Schüler zu setzen. Sie berühren die krisenhaltige Themen unserer Epoche - die „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ in der Terminologie Klafkis (1996: 43ff) - sowie deren Ursachen und Hintergründe. Dies ist kulturauthentischer Unterricht in einer Schule, die sich in einer Kultur der Krisen authentisch verhält.
Die Deutungen der Probleme, die die Lernenden dabei zeigen, drücken nicht nur ihr Verhältnis zum Gegenstand, sondern zugleich ihr Verhältnis zu sich selbst aus. Sie reagieren empfindlich, wenn sie dieses Selbstverständnis durch die Schule nicht respektiert sehen. Es muss ihnen daher die Möglichkeit gegeben werden, sich am Gegenstand über sich selbst auszusprechen. An Bildung orientierter Unterricht kommt erst zu seinem Ziel, wenn der Gegenstand die aktuelle Subjektivität der Schülerinnen und Schüler verändert; es geht bei vielen Gegenständen nicht nur um die Überwindung einer genetischen Schwelle der Herausbildung eines neuen Begriffskonzeptes, sondern auch – und vielleicht vor allem – um die Bewältigung einer Schwelle im Selbstverständnis der Schülerinnen und Schüler.

Die Moderne der Politikdidaktik wollte Wagenschein-Didaktik sein: K. G. Fischer hat in seiner Falldidaktik das exemplarische Prinzip übernommen. So wie Wagenscheins Unterricht auf den gebildeten Laien in Sachen Mathematik und Naturwissenschaft zielte und eben nicht auf den zukünftigen Mathematiker und Physiker, so hatte Fischer den zukünftigen Staatsbürger im Blick und nicht den Politikwissenschaftler oder politischen Funktionär (Fischer 1965: 29).
Lehrstücke haben im Politikunterricht einen überlieferten, allerdings vergessenen Platz. Wenn K. G. Fischer in „Der politische Unterricht“ auf Robinson Crusoe, Kain und Abel und auf Mandevilles Bienenfabel (Fischer 1965: 38ff) verweist, damit die Gegenstände des Politikunterrichts vertieft erarbeitet werden, dann geht es ihm um einen kulturell bedeutsamen Zugang zu den „Einsichten“, die für ihn Ziel des Politikunterrichts sein sollen. Die Lehrkunstdidaktik für den Politikunterricht greift dieses Anliegen auf und arbeitet die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Fällen und der kulturellen Überlieferung durch Lehrstückentwicklung systematisch aus.

Exemplarisch: Man kann für ein Lehrstück mit der klassischen Politikdidaktik von einem realen oder semirealen Fall (Kurt Gerhard Fischer), einem aktuellen oder latenten Problem (Wolfgang Hilligen) oder einem aktuellen Konflikt (Hermann Giesecke) ausgehen. Wie soll der aktuelle Fall verstanden und gelöst werden? Für das Verständnis des Falls wird ein klassisches Exempel herangezogen. Vielleicht gelingt es mit Herodot, Aufgabe und Problem von Verfassungen grundlegend so zu verstehen, dass ein aktuelles Verfassungsproblem besser bewältigt werden kann. Vielleicht gelingt es sogar, von Herodot ausgehend, Ansätze für eine Problemlösung zu finden. Und danach kann bei Aristoteles weiter gesucht werden. Kann der aktuelle Fall damit besser verstanden werden? Gelingt es, einen Bogen so von Herodot und Aristoteles zum Grundgesetz oder zum politischen System der Schweiz zu schlagen?
Die klassische Falldidaktik des Politikunterrichts will an einem einem konkreten Fall das Allgemeine herausarbeiten (Engelhardt 1964). Die Unterrichtseinheit über die SPIEGEL-Affäre von Rudolf Engelhardt, die die Fall-Didaktik des Politikunterrichts musterhaft demonstriert, ist entsprechend gegliedert:

Tabelle 2: Die Phasierung der Arbeit am Fall - politikdidaktisch
Rudolf Engelhardt
1.
Den neuen Fall und das eigene Vorwissen kennen lernen
2.
Das Vorwissen und die Voreinstellungen zum Fall durch Vergleich und Verknüpfung mit anderen Materialien prüfen
3.
Den Fall in das politische System einordnen können. Dabei Kenntnisse zum politischen System gewinnen
4.
Kenntnisse und Erkenntnisse neu verknüpfen, neue Sichtweisen und so die Einsichten gewinnen
5.
Dieses neu erworbene Wissen bei weiteren Unterrichtseinheiten und bei späteren politischen Ereignissen anwenden können

Lehrkunstdidaktik arbeitetet nicht grundsätzlich anders. Sie fügt nur etwas hinzu: Sie behauptet, dass das politische System, auf das der Fall hinweist, nicht zufällig so konstruiert ist, sondern dass dieser Konstruktion eine Logik zugrunde liegt, die sich der Menschheit in einem Jahrhunderte, ja Jahrtausende langen Ringen erschlossen hat. Es geht dabei nicht um einen historischen Abriss. Vielmehr sollen exemplarische Situationen dieses menschheitsgeschichtlichen Entdeckungs- und Lernvorganges im Unterricht so reinszeniert werden, dass sie einen relevanten Beitrag zu einem vertieften Verständnis des gegenwärtigen (politischen, sozialen, ökonomischen, juristischen etc.) Systems leisten.
Deshalb arbeitet ein lehrkunstdidaktischer Politikunterricht dreipolig. Ein Lehrstück zum Politikunterricht braucht:
  1. Einen aktuellen politischen Vorgang, der nach einem systematischen Verständnis und nach einer Lösung verlangt. Das kann ein aktueller politischer Fall, ein politisches Problem von grundlegenderer Bedeutung oder ein aktueller politischer Konflikt sein. Es kann sich aber auch um einen gehaltvollen, lernenswerten Text aus den Sozialwissenschaften handeln.
  2. Ein grundlegendes klassisches, möglichst noch einfach überschaubare Exempel, das aber schon die wesentlichen Momente enthält, die für das systematische Verständnis einer gegenwärtigen Situation erforderlich sind.
  3. Einen Gegenstandsbereich (System), in den mit aktuellem Vorgang und klassischem Exempel eingeführt werden soll. Die Schülerinnen und Schüler sollen ein Begriffskonzept von einem bedeutsamen Gegenstand gewinnen.


  4. Abb. 2: Fall - Exempel - System


Tabelle 3: Die Phasierung der Arbeit am Fall - lehrkunstdidaktisch
Lehrkunst
1.
Aktueller Fall
2.
Rückgriff auf einen klassischen Fall: Konflikt/Problem/Exempel und (vorläufige) Lösung, Entwurf und Darstellung eines klassischen Systems
3.
Den aktuellen Fall vom klassischen Exempel her verstehen
4.
Mit dem aktuellen Fall und dem klassischen Exempel eine eigene Systematik herstellen und zur vorgegebenen Systematik ins Verhältnis setzten
5.
Dieses neu erworbene Wissen beim Fall, bei weiteren Unterrichtseinheiten und bei späteren politischen Ereignissen anwenden können

Die beschreibende Weitergabe von Lehrstücken für den Politikunterricht konzentriert sich auf das klassische Exempel, den Lehrstück-Kern. Ein aktueller Fall oder aktuell notwendiges Systemwissen werden in der Beschreibung des Lehrstücks nur insoweit berührt, als sie ins Verhältnis zum klassischen Exempel gesetzt werden können und das klassische Exempel ins Verhältnis zu ihnen. Die Leistung des Exempels für eine kategoriale Bildung der Schülerinnen und Schüler muss herausgearbeitet und seine genetische Struktur muss in der ihr innewohnenden Dramatik dargestellt werden. Lehrstücke für den Politikunterricht (oder die anderen sozialwissenschaftlichen Fächer) können nur als ihr variierbarer Kern dargestellt werden: Das klassische Exempel ist bekannt und durchgearbeitet, nach dem aktuellen Fall muss Ausschau gehalten werden. Modernes systematisches Wissen steht zur Verfügung und die Struktur des Lehrstücks ist nur grob vorgegeben, sie bleibt offen für jede aktuelle Entwicklung und für jede Lerngruppe (s. Berg in diesem Text → 19: das Grundbild einer Ellipse aus dem Generellen und dem Aktuellen).

3.3  Herodot, Aristoteles und die Verfassungen der Gegenwart
3.3.1 Der Kern des Lehrstücks
Das Lehrstück „Welche aber ist die beste Verfassung? - nach Aristoteles“ bildet den Kern dieses Buches. Ich habe es für die Lehrkunstdissertation „Lehrkunst und Politikunterricht“ (Leps 2006) erarbeitet und danach weiter entwickelt. Es nimmt fast die Hälfte dieses Buches ein, denn es soll zusammen mit den Abschnitten über Martin Wagenschein und den genetischen Unterricht (→ 9ff) und über die Grundbegriffe und das Konzept der Lehrkunstdidaktik (→ 22ff) als Beispiel für die Arbeit an und mit Lehrstücken dienen.

Verfassungen sehen für Schülerinnen und Schüler recht unübersichtlich aus, die gedankliche Ordnung erschließt sich nicht dem einfachen Nachlesen des Gesetzestextes; da ist von Grundrechten die Rede, von Regierungen, Parlamenten und Gesetzen, von Gerichten und Gesetzen, von Parteien, Wahlen und Abgeordneten. Irgendwie hat das auch alles eine Ordnung, wie die Lernenden der systematischen Darstellung im Schulbuch entnehmen können, vielleicht sogar eine Logik, aber welche? Und wenn es eine Ordnung hat, ist es auch die angemessene, die richtige, die beste? Welches ist die beste Ordnung, die beste Verfassung eines Staates? Ist diese Verfassung des Staates, in dem ich lebe, denn überhaupt die Verfassung, die ich haben will?
Es wurde in der Geschichte vielfach darüber nachgedacht, wie das menschlichen Zusammenleben geordnet sein soll. Gibt es dort Überlegungen, mit denen die Ordnungen, die wir in der Welt finden, besser verstanden werden können? Überlegungen, die erklären, warum diese staatlichen Ordnungen so sind, wie sie sind und welche leitenden Absichten jene hatten, die sie schufen? Wie kann man diese Ordnungen auf ihre Tauglichkeit prüfen, gar verbessern?
Es gibt Staaten, in denen man „gut“ leben kann. Aristoteles verstand unter „Gutem Leben“: Der Mensch darf mitreden, er wird anerkannt (vgl. → 49ff). Die Menschheit hat herausgefunden, wie man das Zusammenleben größerer Menschenmengen in Dörfern, Städten, Ländern, Staaten, ja sogar in großen Gemeinschaften von Staaten so ordnen kann, dass nicht nur der blanke Egoismus das Handeln der Menschen bestimmt, dass Konflikte in der Regel friedlich gelöst werden und dass die jeweilige Leitung der Gemeinschaften in etwa das tut, was ihre Mitglieder als richtig ansehen, weil sie an den Entscheidungen beteiligt sind.
Herodot hatte dafür um 430 v. Chr. schon fast die heutigen Begriffe, wenn er von Demokratie (dem Staat der Armen), von Oligarchie (dem Staat der Reichen) und Monarchie (dem Staat des Einzelnen, der immer als Tyrann endet) sprach, aber er sah alle guten Ansätze zu einem dauerhaften Staat immer wieder an der Anmaßung und am Übermut der jeweils Herrschenden scheitern (s. die „Verfassungsdebatte“ → 42ff). Herodot sah also ein menschheitsthematisch wichtiges Problem, fand keine Lösung und wollte dennoch seine Mit-Athener vor irrationalen Lösungen warnen. Anders als die Schülerinnen und Schüler, in denen sich, ihnen noch nicht ganz bewusst, eine bestimmte politische Tradition zu Wort meldet, kannte er die wesentliche Frage noch nicht: „Wie kann ein politisches System aussehen, das die Vorteile der drei Systeme – Monarchie/Aristokratie/Demokratie – miteinander verbindet und die allen Systemen gemeinsame Gefahr der Hybris vermeidet?“ Aristoteles schaute sich viele Staaten an, um herauszufinden, wie sie eingerichtet sein müssen, damit sie mit Zustimmung ihrer Bürger stabil bleiben. Er fand sein Ergebnis in der „Politie“, der Mischverfassung.
Es ist ein Menschheitsthema von räumlich und zeitlich unbegrenzter Aktualität. Funktionierende Verfassungen scheinen einfach und kompliziert zugleich. Hält man sie sich als Schaubild vor Augen, haben sie alle eine ähnliche Grundfigur: Vom Volk geht ein Pfeil zu seinen Vertretern, dann gibt es noch eine Regierung, die vom Volk oder von seinen Vertretern auf Zeit bestellt wird, und dann gibt es noch Gerichte. Weil die Gerichte immer erst wirksam werden, wenn schon längst Entscheidungen getroffen sind, kann man sie in einer ersten Annäherung vielleicht sogar weglassen. All dieses muss auf eine einfache Figur wie auf der Schülerzeichnung zurückgeführt werden können. Von dieser Figur her werden die verschiedenen modernen politischen Systeme verständlich, indem mit ihr der Kern dieser Verfassung identifiziert wird und damit die konkrete Ausprägung des politischen Systems eines bestimmten Landes.

Abb. 3: Ein einfaches Modell einer Verfassung, entworfen von einer Schülerin einer neunten Klasse
Das gemeinsame Leben der Menschen braucht eine grundlegende rechtliche Ordnung, eine politische Verfassung. Ihr Versprechen, ein Rahmen für ein „gutes Leben“ (Aristoteles) zu sein, ist ihnen jedoch nicht einfach abzulesen.
3.3.2 Didaktische Analyse des Lehrstück-Kerns
In der Geschichte der Menschheit dürfte die Erfahrung gestörter, den Menschen unangemessener Ordnungen überwiegen. Aber nimmt man Geschichte als Lernprozess, dann könnte es sein, dass der Lernprozess, auf dem Prinzipien einer guten Verfassung entdeckt wurden, mit dem Bedürfnis junger Leute nach einem sinnvoll geordneten Leben zu tun hat. Herodot scheint in seiner „Verfassungsdebatte“ genau jenes Bedürfnis als unaufhebbar bedroht anzusehen. Er hat damit jene menschheitsgeschichtliche Debatte angestoßen, in der die Prinzipien gefunden wurden, die eine den Menschen und damit auch diesen jungen Leuten angemessene Ordnung ermöglichen.
Wie steht es also mit dem von Herodot genial beschriebenen Problem, dass der Mensch in seiner Gier und Dummheit jedes noch so gut gemeinte politische System ruiniert, und mit der Antwort von Aristoteles, dass Klugheit beim Bau der politischen Institutionen diesen Ruin zumindest hinausschieben kann? Können mit dieser griechische Debatte in einer neunten, zehnten oder elften Klasse die modernen Verfassungen erarbeitet und verstanden werden?
Die klassische „Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung“ von Wolfgang Klafki (Klafki [1963] 1975: 126-153) wird der folgenden Unterrichtsplanung zugrunde gelegt, um einige Aspekte erweitert (vgl. Leps 2006: 152-201).

1. Exemplarische Bedeutung
Zum einen geht es im Lehrstück „Welches aber ist die beste Verfassung? - nach Aristoteles“ um eines der Fundamente des europäischen Verfassungsdenkens, zum anderen um dessen gegenwärtige Verwirklichung in den politischen Systemen verschiedener „westlichen“ Staaten. Damit wird Sprangers Intention aufgenommen, das gegenwärtige „System der Großstaaten“ müsse im Unterricht behandelt werden (→15). Drittens geht es um die konkrete Gestalt dieses Denkens in einem dieser Länder. In diesem Lehrstück wird das Deutschland des Grundgesetzes behandelt, es könnte aber genauso gut um jedes andere Land gehen, dessen politisches System in diese Gruppe gehört. Die griechische Antike hat die für das europäische und amerikanische Denken über lebenstüchtige und menschenwürdige politische Systeme grundlegenden Fragen aufgeworfen und

  • einige davon in bis heute gültiger Weise beantwortet (die Staatsformen, ihre Leistungen und ihre Gefahren, die Bedeutung der Mischverfassung, die Notwendigkeit eines klug konstruierten Systems der Institutionen, die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs, die Beteiligung des Volkes an der Politik, die Herrschaft des Gesetzes, die Politie als Herrschaft von Freien über Freie),
  • bei anderen immerhin die Richtung angedeutet, in der sich die spätere Entwicklung bewegte (aus den verschiedenen Institutionen entwickelte sich später eine geordnete Gewaltenteilung/Gewaltenverschränkung, aus dem Privileg „Staatsbürger“ erwuchs eine rechtliche Stellung für alle Erwachsenen),
  • während es in einem dritten Bereich noch ganz seiner Zeit verhaftet blieb (die Rechtfertigung der Sklaverei, die Privilegierung des Mannes vor der Frau, die Bevorzugung der Besitzenden vor den Arbeitenden).

Denkt man wie Hilligen (1966: 153 und 1975: 28f) mit Schleiermacher ([1805/06] 1984: 127) und Toynbee (1949: 16) Geschichte als einen Prozess, in dem die Menschheit lernt, Herausforderungen zu bewältigen, Chancen zu nutzen und so zu sich selbst zu kommen, dann ist die griechische Antike die erste Aufklärung, von der ausgehend dann in der zweiten Aufklärung der Neuzeit grundlegenden Strukturen der gegenwärtigen modernen politischen Systeme geschaffen wurden.
Zu einem Politiklehrstück gehört immer auch ein aktueller „Fall“, an dem das Lehrstück die grundsätzlichen Fragen aufwirft. Dieser Fall kann, weil es eben ein aktueller sein soll, hier nicht beschrieben werden. Er sollte zu diesen Frage führen: Warum hat man solche Verfahrensregeln in der Politik? Ist das Zufall? Hat das eine tiefere Bedeutung, die nicht sofort zu erkennen ist, die man aber erkennen und verstehen sollte, weil man sonst keinen rechten Zugang zu den aktuellen Dingen findet (vgl. Engelhardt 1964)? Jedoch, nicht immer sind solche Fälle politisch gerade aktuell. Dann sollte dieses Lehrstück eine genetische Einführung sein: Im westlichen politischen Denken denkt man über politische Einrichtungen in dieser und jener Weise, weil… , damit das eigene politische System verständlicher werde und die Systeme der anderen Staaten vertraut werden können.

2. Gegenwartsbedeutung
Politik erscheint Schülerinnen und Schülern als ein reichlich undurchschaubares Ding: da sind viele Leute, viele Einrichtungen, Parlament, Parteien, Abgeordnete, das nennt sich Demokratie, aber oft machen die da oben was, mit dem viele nicht einverstanden sind, ein Chaos der schlechten Laune, von dem die Schülerinnen und Schüler auch immer wieder betroffen sind, weil etwas entschieden wird, von dem sie oder ihre Eltern betroffen sind, ohne dass sie gefragt worden sind. - Natürlich ist das alles kompliziert, aber es gibt grundlegende Strukturen, das Ganze ist nicht ohne Regel und Ordnung, die man verstehen kann, wenn man versteht, warum das alles so kompliziert eingerichtet ist.

3. Subjektbedeutung
Aus ihrem naturwissenschaftlichen Unterricht wissen die Schülerinnen und Schüler, dass es in der Welt Ordnungen und Ordnungslogiken gibt. Nun erfahren sie: Auch die Welt der Politik hat Ordnungslogiken. Sie sind allerdings schwerer genau zu bestimmen, zumal Ordnung dort nicht einfach gegeben ist. Die Ordnungen des Zusammenlebens müssen vielmehr von den Menschen gestaltet werden, sie können sehr variieren, aber sie können nicht beliebig sein, wenn sie auf Dauer das Leben der Menschen regeln sollen. Die Frage von Aristoteles nach einer dauerhaften gemeinsamen Ordnung für normale Menschen ist auch eine Frage nach einem Rahmen, in dem das Leben der Schülerinnen und Schüler abläuft. Kann diese Frage beantwortet werden, dann steht das Leben der Schülerinnen und Schüler in einem festeren Rahmen. Dieser Rahmen engt zwar auch ein, aber vor allem stabilisiert er das Leben, macht es als friedliches Leben überhaupt erst möglich. Damit gewinnen die Schülerinnen und Schüler Sinn ermöglichende Orientierungen für ihr Zusammenleben mit anderen Menschen.

4. Vergangenheitsbedeutung
Dieses Thema ermöglicht die Erschließung eines großen politisch-kulturellen Raumes. Europa und Amerika haben ihre politischen Systeme im Anschluss an die griechisch-römische Antike entwickelt. Wenn die Erfahrungen Griechenlands auch anderthalb Jahrtausend vergessen waren, griffen in der zweiten Aufklärung so unterschiedliche Autoren wie Rousseau oder die Federalists auf die Griechen zurück. Andere Theoriestränge wie die Vertragstheorien von Hobbes und Locke können in einer Ergänzung oder in einer andere Unterrichtseinheit untergebracht werden.

5. Zukunftsbedeutung
Die Frage von Aristoteles ist von dauernder Aktualität:

„Wie sieht die beste Verfassung für die meisten Staaten und die beste Lebensweise für die meisten Menschen aus, wenn man eine Lebensweise sucht, die den meisten Menschen möglich ist, und eine Verfassung, die die meisten Staaten annehmen können?“
(Aristoteles 1295a5)

Die Europäer leben in politischen Systemen, die ständig ihre Struktur und ihre Funktionsweise ändern. Es ist immer noch nicht geklärt, inwieweit die Europäische Union selbst als ein System demokratischer Institutionen verstanden werden kann (Schmidt 2008: 399ff). Der europäische Prozess entwickelt sich weiter; es ist durchaus nicht klar, wie in Zukunft die politischen Systeme der europäischen Staaten und der EU gestaltet sein werden. Wenn die gegenwärtige Finanz- und Schuldenkrise zu einer europäischen Finanzunion mit angeglichener Finanzpolitik führt, funktionieren in Zukunft alle politischen Institutionen selbst dann anders, wenn sie sich nicht verändern.
Viele Schülerinnen und Schüler werden sich in ihrem Leben in mehreren Staaten gleichzeitig bewegen und dabei unterschiedliche Rechtssysteme, unterschiedliche Sozialsysteme, unterschiedliche politische Systeme und unterschiedliche Öffentlichkeiten kennenlernen. Der Vertrag von Maastricht fördert einen europäisch-internationalen Lebensstil. Die nationalstaatliche Perspektive ist heute für die unterrichtliche Behandlung auch nur des eigenen politischen Systems nicht mehr ausreichend.

„Die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass der politische Prozess auf mehreren, miteinander vernetzten Ebenen stattfindet und dass dabei die europäische und die internationale Ebene eine zunehmende Rolle spielen.“
(Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburg 2011: 11)

Die Schülerinnen und Schüler müssen einen stärker an grundsätzlichen Fragen orientierten Blick auf soziale, politische und ökonomische Verhältnisse bekommen, um fähig zu werden, in der europäischen und internationalen Vielfalt verwandte Probleme und die Ähnlichkeiten und Unterschiede von Lösungen zu erkennen.

6. Struktur des Inhalts
Die Griechen:
Herodot (*490/480 v. Chr.; † um 424 v. Chr.) ging in seinem Buch „Historien“ der Frage nach, weshalb Hellenen und Barbaren gegeneinander Kriege führten, gemeint sind die Perserkriege (um 500 - 479).

Verlockung und Gefahr der Herrschaft, wie sich die Großen dieser Welt darin verstricken und dabei das rechte Maß zur Bewahrung ihrer Macht verlieren und an welche Gegnern sie scheitern, das bildet die zentrale Thematik im Geschehen der Historien. (Bichler/Rollinger: 16)

Die verschiedenen griechischen Staaten scheitern, weil ihre Führungen nach politischen Erfolgen in ihren Urteilen, ihren Zielen und ihren Handlungen aus Gier und Größenwahn ihre Urteilsfähigkeit verlieren. Das gilt für die Politik nach außen und für den Krieg, aber auch nach innen. Wenn auch die „große“ Politik zwischen den Staaten, der Krieg, die Bündnisse, die Eroberungen und die Niederlagen im Vordergrund seines Berichtes stehen, so zeigt doch auch das, was in den Staaten geschieht, dass die Führenden immer wieder das Maß verlieren. Dabei blickt Herodot keineswegs nur auf die vergangene Geschichte. Seine Bemerkungen zu den politischen Verfassungen der verschiedensten Staaten waren an sein Publikum aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges gerichtet. Am schlimmsten ist für ihn die Tyrannis: „Es gibt nichts auf der Welt, woran mehr Blut klebt.“ (Herodot V 97) Aber auch die Demokratie sah Herodot kritisch, die Masse kann getäuscht werden (Herodot V 92).
In seiner „Verfassungsdebatte“ (→ 42ff) zeigt Herodot, wie Verfassungen entarten können. Genau genommen ist es keine Debatte, sondern ein als Debatte montierter Traktat über die Vorteile und Gefahren der Monarchie, der Oligarchie und der Demokratie. Diese „Debatte“ soll in Persien stattgefunden haben, nachdem sieben Adelige eine Tyrannis gestürzt hatten.
Otanes sprach sich gegen wie (Wieder-)Einführung einer Alleinherrschaft aus. In einer sehr ausführlichen Argumentation zeigt er, wie der Alleinherrscher langsam immer unwissender wird, den Kontakt mit der politischen Wirklichkeit verliert, gierig und überheblich wird. Nur sehr knapp plädiert er dann für die Demokratie, denn in ihr bestimme das Volk und ausgeloste Amtsträger seien dem Volk verantwortlich.
Megabyzos hält dagegen das Volk für unwissend und verantwortungslos, er plädiert für eine Herrschaft eines Ausschusses der fähigsten Männer, zu denen alle Debattierer ja selbst gehören.
Dareios als Dritter billigt alles, was Megabyzos gegen die Herrschaft des Volkes gesagt hat, wendet es aber zugleich auch gegen die Herrschaft des Adels. Denn die Herrschaft des Adels wird zu einem Kampf zwischen den verschiedenen Anführern des Adels führen. Nur der Monarch steht über den Interessen, und nur er allein kann effektiv handeln, denn er muss seine Entschlüsse nicht mitteilen.

Herodot verwendet eine schon recht entwickelte Vorstufe der heutigen Begrifflichkeit für politische Systeme. Die Darstellung lässt seine eigene Auffassung vermuten: Alle politischen Systeme, die er kennt, sind von der Gefahr der Hybris, dieser seltsamen Kombination von Größenwahn und Dummheit, dieser Unfähigkeit zum angemessenen Urteil der jeweils Herrschenden bedroht, sei es das Volk, sei es eine elitäre Oligarchie, sei es ein Alleinherrscher. Andererseits kann er in jedem dieser Systeme auch Vorteile erkennen, für die Demokratie spricht die Beteiligung aller, die Oligarchie kann aus fähigen Männern bestehen, der König kann effektiv handeln. Das Problem ist nun gestellt: Wie kann man dafür sorgen, dass einerseits die von einem politischen System zu erwartenden Leistungen erbracht werden können, andererseits aber die Gefahr der Hybris vermieden wird?

Tabelle 4: Vor- und Nachteile von Verfassungen bei Herodot
VorteileGefahren
Einer herrschtEffizienzHybris
Wenige herrschenBildung und Fachkunde
Alle herrschenBeteiligung des ganzen Volkes

Hybris nach Wikipedia:
Die Hybris (griechisch ὕβρις „der Übermut“, „die Anmaßung“) bezeichnet eine Selbstüberhebung, die unter Berufung auf einen gerechten göttlichen Zorn, die Nemesis, gerächt wird. Die Hybris ist der Auslöser des Falls vieler Hauptfiguren in griechischen Tragödien. Die Hauptfigur ignoriert in ihrer Überheblichkeit Befehle und Gesetze der Götter, was unvermeidlich zu ihrem Fall und Tod führt. …
Im aktuellen Sprachgebrauch wird „Hybris“ als ein bildungssprachlicher Ausdruck für Vermessenheit und Selbstüberhebung verwendet, die zu einem schlimmen Ende führen werden.

Auch eine gute Verfassung kann Hybris in der Politik nicht verhindern. Aber sie muss sie eindämmen können.
Wenn wir im Unterricht heute auf ein Problem stoßen, das mit der politischen Ordnung unseres Landes zu tun hat, könnte es also sein, dass es sich mit der damaligen Terminologie und mit damaligen Argumenten anfänglich beschreiben lässt. Dann müsste es auch möglich sein, die damalige Debatte als eine heutige Debatte zu verstehen: Welche Verfassung ist die beste? Und mit der damaligen Debatte müssten sich Grundfragen gegenwärtiger Verfassungen, ihrer Stärken, ihrer Probleme, vielleicht gar ihrer Krisen elementar klären lassen.
Der Ausgang dieser Debatte ist für griechische Leser und Hörer völlig unakzeptabel. Die vier anderen Adeligen stimmten Dareios zu, so war die Entscheidung für eine Monarchie gefallen. Wer sollte nun König werden? Dieses Problem wurde auf eine Weise gelöst, die im Unterricht nur in einer Fassung ad usum infantem vorgetragen werden kann, wenn überhaupt… Herodot scheint das alles für völlig unvernünftig zu halten, seine griechischen Leser sollen das erfahren, um ihre Schlüsse daraus zu ziehen.

Aristoteles griff 100 Jahre später diese Diskussion wieder auf. Er löste die Frage nach der besten Verfassung für die meisten Staaten und der besten Lebensweise für die meisten Menschen empirisch. Aus der Analyse von 158 von ihm untersuchten Verfassungen seiner Zeit bestimmte Aristoteles sechs Verfassungsformen, die sich als drei Paare gegenüber stellen lassen:

Tabelle 5: Die Grundformen von Verfassungen nach Aristoteles
Ausrichtung auf den gemeinen NutzenAusrichtung auf den Eigennutzen der Herrschenden
Einer herrschtMonarchieTyrannis
Wenige herrschenAristokratieOligarchie
Alle herrschenPolitieDemokratie

Jede konkrete Verfassung eines Staates kann mit diesem Schema eingeordnet werden; kein Staat entspricht jedoch genau einem dieser sechs Typen; alle konkreten Staaten sind immer Zwischenformen, also ein mehr oder weniger an Monarchie und Tyrannis oder auch von Oligarchie und Demokratie. Daher reichen diese Bestimmungen alleine zur Klärung der Frage nach dem „besser“ oder „schlechter“ nicht aus.
Diese Unterschiede sind vielmehr eine Folge der sozialen Struktur der Gesellschaften in den Staaten. Es herrschen jeweils andere soziale Schichten. Weil es Reiche, Mittlere und Arme gibt, kommt es zu einen permanenten „Klassenkampf“ zwischen diesen sozialen Gruppen. Für einen stabilen Staat ist es notwendig, dass dieser Kampf in geregelte Bahnen gelenkt wird. Weder den Reichen noch den Armen will Aristoteles die führende Stellung im Staat anvertrauen: „Die Reichen werden übermütig und schlecht im Großen, die Armen bösartig und schlecht im Kleinen.“ (Politik 1295b5) Dagegen bleiben die Mittleren eher vernünftig, vielleicht, weil sie bei riskanter Politik nicht soviel gewinnen können wie die Reichen, aber anders als die Armen viel zu verlieren haben.
Alle müssen irgendwie am Staat und an der Politik beteiligt sein, denn wer nicht beteiligt wird, der sieht sich benachteiligt, ist gekränkt und eines Tages gefährlich. Aber nicht jeder kann und soll auf die gleiche Weise beteiligt werden. Wenn auch nicht jeder im Volk politisch fähig ist, so weiß es doch in seiner Gesamtheit viel zu sagen. Aber es soll nicht alles entscheiden, es soll schon gar nicht alles erledigen. Die Politik muss vielmehr von den Tüchtigsten gemacht werden, also von jenen, die etwas gelernt haben und deshalb zur Politik fähig sind und die auch Zeit für die Politik haben, weil ihr eigener Reichtum sie unabhängig macht. Verstand man zur Zeit des Aristoteles unter Demokratie die unmittelbare Regierung durch die Volksversammlung mit einer ganz kleinen Exekutive aus gelosten Beauftragten, die selbst keine eigene Politik machen durften, schlug er die Wahl einer dauerhaften Regierung vor. Weil die Regierenden sich selbst unterhalten mussten, konnten nur Angehörige höherer sozialer Schichten gewählt werden. Aber die breiten Schichten der armen Bevölkerung blieben an der Politik beteiligt, sie sollten über Volksversammlungen und Wahlen regelmäßig beteiligt sein. Die aus der sozialen Elite kommenden Regierenden blieben so an die Zustimmung der breiten Massen gebunden. Beide Gruppen sollten auf diese Weise zufrieden sein, die einen, weil sie regieren können, die anderen, weil sie ein Mitspracherecht darüber haben, wer regiert wird und was dabei geschieht.
Seine Sympathie gehört also der Politie, weil sie sowohl das Volk - gemeint die Armen und die Mittelschichten - als auch die Eliten beteiligt. Dabei setzt er sich ausführlich mit allen damals vorgebrachten Argumenten gegen die Demokratie - nicht immer ist sein Sprachgebrauch ganz trennscharf - auseinander und zeigt, mit welcher konkreten Ausgestaltung des politischen Systems diese Bedenken widerlegt werden können. Er unterscheidet die wesentlichen Institutionen der Gesetzgebung, der Ausführung und der Rechtsprechung, ohne sie jedoch schon wie spätere Theoretiker in ein genaues Verhältnis zueinander zu setzen.
Die Aufteilung der Gewalten durch eine regelmäßige Wahl der Regierenden und ihre Kontrolle durch das Volk – das war die Lösung von Aristoteles. Damit löste er den immerwährenden Streit um die Gleichheit: Die Kundigen regieren, aber sie können ihre Ämter nur schwer für ihre eigenen Interessen missbrauchen; das Volk ist beteiligt, kann aber nicht viel falsch machen. Demokratisch ist, dass jeder Bürger an der Willensbildung beteiligt ist. Die Wahl des Führungspersonals sieht er jedoch als einen oligarchischen Vorgang an, weil sich mit der Wahl eine Elite bildet oder bilden kann, die auch an ihre eigenen Interessen denkt. Das ist die Mischverfasssung, die „Politie“. Für Herodots effizienten König interessiert Aristoteles sich jedoch nicht, ein König ist immer schon eine Kränkung aller Freien, egal, wie tüchtig er sonst sein mag.
Nur freie Männer können Bürger sein: Die griechische Demokratie hatte einen militärdemokratischen Ursprung. Wer mitkämpfte, wollte auch mitreden. Frauen sind deshalb nicht dabei, mitwohnende Ausländer – potenzielle Feinde also – auch nicht. Von den Sklaven ist gar nicht erst zu reden.
Die wichtigste Sicherung vor der Unvernunft der Regierenden sieht Aristoteles in der Herrschaft des Gesetzes. Die Regierenden sind den Gesetzen, die die Volksversammlung beschließt, unterworfen. Die Gesetze sollen so genau sein, dass die Regierenden möglichst wenig Interpretationsspielraum haben. So können sie den Willen des Volkes nicht zu ihrem eigenen Vorteil verändern. - Auch an eine von der Politik getrennte Justiz hat er schon gedacht.

Die Griechen haben die Demokratie „erfunden“; sie haben alle grundlegenden Fragen gestellt. Aber erst Aristoteles hat mit seiner Idee von der Integration unterschiedlicher, ja auch gegensätzlichen Interessen, von verschiedenen Regierungsämtern und von einer ländlichen „besten Demokratie“ (→ 51), das Gespür auch für die richtigen, weil auf Dauer und Stabilität zielenden Antworten. Aristoteles löst also das von Herodot aufgeworfene Problem der Hybris in der Politik mit zwei Überlegungen:

  1. Politischen Systeme haben ein soziales Fundament. Wenn Demokratie und Oligarchie stabil miteinander verbunden werden sollen, ist dazu eine Sozialstruktur notwendig, die zu einem verständigungsbereiten gesellschaftspolitischen Klima führt. Daraus ergibt sich die Bedeutung einer großen Mittelschicht.
  2. Sogar die einzelnen politischen Institutionen haben bestimmte soziale Grundlagen. Deshalb sind genau und sehr sorgfältig bestimmte Institutionen und Gesetze notwendig, die den Einfluss des Volkes in seinen verschiedenen Schichten und den der Eliten so ins politische System transferieren, dass einerseits die Fähigkeiten aller Gruppen optimal genutzt werden und andererseits alle Gruppen mit ihrer Stellung im politischen System zufrieden sind.

Die modernen Systeme: Ein synoptischer Blick kann die politischen Systeme des Westens in zwei Grundtypen einteilen: Die präsidialen demokratischen Systeme (USA) und parlamentarisch-demokratischen Systeme (Großbritannien und Deutschland); die direkte Demokratie der Schweiz ist eine Besonderheit. Wenn ein Demokratiedefizit der Europäischen Union beklagt wird, dann meist mit einem Verweis auf die immer noch geringe Rolle des Parlaments.
USA Die Amtszeit des mit großer Macht ausgestatteten Präsidenten ist begrenzt, er darf nur einmal wiedergewählt werden. Der Präsident hat große Entscheidungsgewalt in der Außen- und Militärpolitik; er ist jetzt zwar der mächtigste Politiker der Welt, aber er hat noch nicht einmal das Recht, im Kongress einen Gesetzesentwurf einzubringen. Dennoch bestimmt er aber in Zusammenarbeit mit Anhängern unter den Mitgliedern des Kongresses den Gang der Gesetzgebung (Hübner: 118). Das Volk wählt in sehr kurzen Abständen die Mitglieder des Repräsentantenhauses, alle zwei Jahre muss ein Drittel der Senatoren um die Wiederwahl kämpfen. Deshalb gibt es sehr enge lokale Bindungen zwischen den Abgeordneten und großen Gruppen ihrer Wähler. Es ist deshalb völlig normal, wenn Abgeordnete anders abstimmen als ihre Fraktion. Die Innenpolitik ist Gegenstand ständiger Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und den verschiedenen im Kongress vertretenen Kräften aus beiden Parteien. Weder dominiert der Präsident den Kongress noch der Kongress den Präsidenten. So ist ein System von Kontrollen und Gleichgewichten entstanden („checks and balances“). Der Präsident der USA wird über Wahlmänner letztlich vom Volk gewählt; das Repräsentantenhaus und der Senat bestehen aus unmittelbar gewählten Mitgliedern, hat also seine Legitimation ebenfalls unmittelbar vom Volk. Um erfolgreich zu sein, muss der Präsident im Kongress permanent nach Verbündeten suchen. So interagieren beide Seiten konflikthaft aus eigenem Interessen heraus, jede Seite braucht die freiwillige Zusammenarbeit der anderen. Der Präsident ernennt die Richter auf Lebenszeit; sind sie einmal ernannt, sind sie vollständig unabhängig.
Großbritannien Die britische Königin ernennt jenen zum Premierminister, der vom Parlament in dieses Amt gewählt werden würde, gäbe es dort ein Wahlverfahren zu diesem Amt. Der Einfluss des Premierministers beruht auf seiner Mehrheit im Parlament. Als Regierungschef ist er fast Diktator auf Zeit („Lord Hailsham, damaliger Lordkanzler, hat die britische Demokratie daher mit einiger Berechtigung eine ‚elective dictatorship‘ genannt.“ Schieren: 79), nur durch Verfassungsfragmente, Präzedenzfälle und zu beachtenden Brauch gebremst. Die Regierung, ein riesiger Körper mit einer Vielzahl von Ministern und anderen Ämtern, bildet er allein. Damit hat er einen erheblichen Einfluss auf seine Mehrheitsfraktion im Unterhaus; es kann vorkommen, dass ein großer Teil der Abgeordneten seiner Fraktion in irgendeiner Weise an der Regierung beteiligt ist. Diese Regierung wird von der eigenen Mehrheit nicht öffentlich, sondern nur in internen Auseinandersetzungen kontrolliert, während die parlamentarische Opposition als Regierung im Wartestand die öffentliche Auseinandersetzung sucht. Die Gewaltenteilung ist in Großbritannien also eher schwach ausgeprägt, fallen doch Regierung und Parlamentsmehrheit im Prinzip zusammen und andere politische Akteure von Gewicht gibt es nicht. Das Oberhaus hat nur noch eine geringe Bedeutung. Vom Parlament gesetztes Recht ist keiner verfassungsrichterlichen Kontrolle unterworfen. Ein neu geschaffenes oberstes Gericht hat einige wenige verfassungsrechtliche Befugnisse: Es kann die Übereinstimmung der Gesetzgebung mit der Europäischen Deklaration der Menschenrechte prüfen, ohne dass bei einer Feststellung der Unvereinbarkeit damit angesichts des grundlegenden Prinzips der Souveränität des Parlaments daraus die Ungültigkeit des Gesetzes folgt. Volksabstimmungen gibt es in ganz wesentlichen Fragen, so 1975 über den Beitritt zur EWG. Aber: „Referendums are not legally binding, so legally the Government can ignore the results; for example, even if the result of a pre-legislative referendum were a majority of ‘No‘ for a proposed law, Parliament could pass it anyway, because parliament is sovereign.“ (Englisches Wikipedia: Referendums_in_the_United_Kingdom) Es gibt keine geschriebene Verfassung.
Deutschland Das deutsche politische System ähnelt auf dem ersten Blick dem Großbritanniens: Ein starker Regierungschef, der von der Parlamentsmehrheit hervorgebracht wird, während das Staatsoberhaupt nur eine geringe politische Bedeutung hat. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede.
Zwar ist es - wie in Großbritannien - Aufgabe des Parlaments, die Regierung hervorzubringen, die zusammen mit der Parlamentsmehrheit, meist eine Koalition, das politische Aktionszentrum bildet. Es ist Aufgabe dieser Parlamentsmehrheit, den meist von der Bundesregierung eingebrachten Gesetze und dem Haushalt Geltung zu verschaffen. Aber die Möglichkeit der Bundesländer, über den Bundesrat in vielen Fällen entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen zu können, zwingt die Bundesregierung und die Bundestagsmehrheit in einen permanenten Abstimmungsprozess mit den Bundesländern und damit mit den Oppositionsparteien, soweit sie in den Bundesländern Regierungsverantwortung tragen. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht eine erhebliche Kontrollbefugnis, in strittigen Fragen gibt es als Richtliniengeber dem Bundestag und dem Bundesrat sogar die Grundzüge der Gesetzgebung vor. So müssen Bundesregierung und Bundestagsmehrheit ständig auf andere politische Institutionen Rücksicht nehmen. Es ist in Deutschland anders als in Großbritannien gerade nicht möglich, dass die Bundesregierung „durchregiert“. Blockade ist überall; es ist nicht ungewöhnlich, dass Deutschland von einer informellen „Großen Koalition“ aus den Unionsparteien und der SPD regiert wird, weil sich im Bundesrat oft andere politische Mehrheiten bilden als im Bundestag. Politik ist deshalb in Deutschland wie in den USA ein permanenter Prozess von Kommunikation, Aushandlung und Kompromissbildung. Und genau dieses könnte das Geheimnis der Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Demokratie nach 1949 sein: Alle politischen Kräfte müssen sich in allen Konflikten letztlich immer wieder mit allen anderen politischen Kräften abstimmen. Volksabstimmungen gibt es je nach Landesverfassung nur in den Bundesländern. Das könnte eine Ursache für zunehmende „Politikverdrossenheit“ in Deutschland sein: Zwar sind die Politiker der verschiedensten Parteien und Institutionen permanent miteinander beschäftigt, das Volk selbst kommt in den im politischen Prozess des Bundes nur als regelmäßig abgefragter Wähler vor, der sich mit seiner Antwort bei den Wahlen immer mehr zurückhält: Die Wahlbeteiligung nimmt insgesamt gesehen ab.
Schweiz Eine besondere Lage gibt es in der Schweiz: Ein direkt gewähltes Parlament, dazu eine Vertretung der Kantone, die ebenfalls direkt gewählt wird. Die Bundesregierung, genannt Bundesrat, wird nach einem vereinbarten Schlüssel aus den vier größten Parteien zusammengesetzt. Das Wahlvolk hat in der Schweiz einen im Vergleich sehr geringen Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung, selbst der Einfluss der Legislative auf die Exekutive wird als gering eingeschätzt. Die großen Parteien handeln unter sich die Verteilung der Sitze im Bundesrat (=der Bundesregierung) aus. Im Bundesrat herrscht dann das „Kollegialitätsprinzip“: Nach einer Einigung der Bundesratsmitglieder vertreten sie den Beschluss gemeinsam nach außen. Wenn die Verfassung oder Gesetze geändert werden sollen, neue Gesetze eingeführt werden sollen oder die Schweiz wichtigen internationalen Verträgen beitritt, leitet der Bundesrat eine „Vernehmlassung“ ein: Die Kantone, die politischen Parteien und die Interessenverbände werden zu öffentlichen Stellungnahmen eingeladen. Damit werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll Fachwissen mobilisiert werden, zum anderen sollen die politische Kräfteverhältnisse erkundet werden, damit eine „referendumsfeste“ Vorlage erarbeitet wird. Das Wahlvolk wird also nicht nur an der Urne beteiligt, sein Wissen und sein Urteil werden schon vorher gefragt. Die Parteienkonkurrenz ist in ihrer Bedeutung geringer als in allen anderen westlichen demokratischen Systemen, wenn auch die Parteien weiterhin mit ihrer überkommenen politisch-ideologischen Prägung die politischen Diskussionen beeinflussen wollen. Auf der einen Seite gibt es eine in sich parteienpluralistische politische Elite, auf der anderen Seite kann immer wieder aus dem Volk heraus in die Politik interveniert werden. Die Volksabstimmungen sind ein systemlogisches Gegengewicht gegen diese Konzentration politischer Macht. Aber das ist nicht notwendig ein Antagonismus, im Normalfall sind die Volksabstimmungen ein reguläres kooperatives, durch eine Vernehmlassung eingeleitetes Gesetzgebungsverfahren.
Europäische Union Die Europäische Union ist ein politisches System ganz eigener Art. Sie ist weder ein Bundesstaat noch ein Staatenbund noch nur ein internationaler Vertrag. Die Mitgliedstaaten sind der Souverän der EU. Sie hat ein eigenes System von Einrichtungen, in denen Tag für Tag allgemein gültige Regeln ausgehandelt und entschieden werden. Die zentrale politische Steuerung liegt beim Europäischen Rat, dem Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Aber die alltägliche Gestaltung der Politik der EU, wie sie sich aus den Verträgen ergibt, ist Aufgabe der Europäischen Kommission. Die Kommission wird vom Europäischen Rat dem Parlament vorgeschlagen. Nur die Europäische Kommission kann einen Gesetzgebungsvorschlag in das Europäische Parlament einbringen. Das Parlament wird von den Bürgerinnen und Bürgern der EU gewählt. Hat das Parlament über ein Gesetz entschieden, ist der Ministerrat zu beteiligen. Der Ministerrat besteht immer aus den in den Mitgliedsstaaten zuständigen Ressortministern. Es gibt ein Gericht, dass über die Einhaltung der Verträge wacht. Und es soll eine Beteiligung der europäischen Bürger an der Politik der EU geben (Wikipedia: „Europäische_Bürgerinitiative“). Auf den ersten Blick sieht die EU wie eine vorsichtige Kopie des bundesdeutschen Föderalismus aus.
Aber es gibt doch grundlegende Unterschiede: Das EU-Parlament beruht auf einem ungleichen Wahlrecht, die Stimme eine Bürgers eines kleinen Mitgliedsstaates hat viel mehr Gewicht als die Stimmer einer Bürgerin aus einem großen Mitgliedsstaat. Es gibt auch keine die ganze EU umfassenden Parteien, nur Zusammenschlüsse ähnlicher Parteien aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten; die Parteien führen den Wahlkampf mit nationalen Themen; die Wähler entscheiden auch nach nationalen Themen. Eine gesamteuropäische Öffentlichkeit fehlt bislang. Die Europäische Kommission ist zwar die „Regierung“ der EU, als europäische Regierung wird sie jedoch nicht wahrgenommen.
Manche sehen darin einen sich entwickelnden, vorübergehenden Zustand. Die EU ist dann weniger ein politisches System als vielmehr ein politischer Prozess, der auf eine immer tiefere Integration hinaus läuft. Krisen zwingen die Politik immer wieder zur Vertiefung der Integration. Andere sehen die institutionellen Besonderheiten der Europäischen Union als letztlich unveränderbar an. Angesichts divergierender Interessen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sei ausgeschlossen, dass in der EU die Souveränität von den Mitgliedsstaaten auf die Bürger übergeht. Die verschiedenen Staaten haben durchaus immer noch immer noch ihre eigene Staatsräson.
Resultate der Sachanalyse Die Schülerinnen und Schüler können Kontinuität und Unterschied zwischen Griechenland und der Moderne erkennen, die Einsichten der Griechen werden aufgenommen und zugleich verwandelt. Sie vollziehen diesen menschheitsgeschichtlichen Lernprozess selbst. Die griechische Einsicht, dass alle Bürger die Möglichkeit haben müssen, an Politik beteiligt zu sein, wird behalten, gleichzeitig wird das Bürgerrecht prinzipiell an alle Erwachsenen verliehen. Das politische System muss aber Filter haben, damit nicht jede beliebige politische Stimmung politikbestimmend in das System hineinschlägt. Das System der politischen Institutionen muss genau bedacht werden. Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung werden als Schutz gegen unerwünschte Konzentrationen politischer Macht hinzugefügt. Innerhalb der Moderne sind wieder verschiedene Typen von politischen Systemen möglich, teils in Verfassungen geregelt, teils durch Überlieferung so gewachsen. Von diesem Punkt aus sind Verzweigungen möglich: Sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkannt, kann je nach Land vertieft werden, die Deutschen beschäftigen sich mit dem Staat des Grundgesetzes, die Schweizer mit ihrer Bundesverfassung; dieser Schritt muss in jedem Land und für jedes Land besonders vorbereitet werden.

7. Zugänglichkeit
Die Verfassungsdebatte von Herodot kann nachgespielt werden und die dabei von den Schülerinnen und Schülern gewonnene Lösung kann als Vorbereitung zu einem Besuch/Vortrag des Aristoteles genommen werden. Die grafischen Darstellungen der politischen Systeme ermöglichen dann den Vergleich der gegenwärtigen Systeme; das eigene politische System kann mit einem üblichen Schulbuch unterrichtet werden. Dabei sind Vertiefungen je nach aktueller Situation möglich.

8. Struktur des Lehr-Lern-Prozesses
In der Lehrkunstdidaktik heißen die einzelnen Sequenzen einer Unterrichtseinheit nach Art der Theatersprache „Akte“ und „Szenen“. Das Lehrstück „Auf der Suche nach einer guten Verfassung“ hat drei Akte und einen Rahmen. Der Rahmen sollte einen aktuellen Fall behandeln.

Tabelle 6: Die Aktfolge des Lehrstücks über die Verfassungen
AktInhalt
Rahmen: Aktueller Fall
1Herodot: Verfassungsdebatte
Aristoteles: Verfassungslehre
2Moderne politische Systeme:
USA, Großbritannien, Schweiz, Deutschland
3Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
oder: Die Verfassung eines anderen Staates
Rahmen: Aktueller Fall

3.3.3 Ein Lehrstückbericht
Ein Bericht zeigt die großen Linien eines Unterrichts; dem Lehrer-Leser sollen seine innere Logik und seine Dramaturgie erkennbar werden. Er soll dem Leser den Unterricht Schritt für den Schritt nachvollziehbar machen, damit der Leser diesen Unterricht übernehmen und verbessern kann. Deshalb müssen die Phasen des Unterrichts übersichtlich dargestellt werden, das Unterrichtsmaterial muss genauso vorgestellt werden wie die Unterrichtsmethoden, die Sozialformen und die von den Schülern erzielten Resultate. Zum Abschluss wird über Veränderungen und Neugestaltungen nachgedacht.
Dieser Bericht ist ein Querschnitt aus vielen Durchgängen dieses Lehrstücks am Gymnasium Ohlstedt in Hamburg. Natürlich haftet solch einem Bericht immer der Verdacht an, da wolle einer seine Arbeit schöner zeigen, als sie ist. So ist es halt…
Der Rahmen eines Lehrstücks
Der Auslöser: In der Politik wird eine Entscheidung getroffen, die vielen Bürgern nicht gefällt: „Wir sind doch die Betroffenen, warum dürfen wir nicht/kaum/nur so wenig mitreden?“ „Die da oben machen doch, was sie wollen.“ „Da müssen wir gegen an gehen, Aufruf zur Demonstration.“ Es gibt immer wieder politische Ereignisse, die solche Bemerkungen geradezu hervorrufen. Es kann ein grundlegendes, von allen Bürgern als wichtig empfundenes politisches Problem sein oder ein Konflikt, der die Gemüter erregt.
In die Auseinandersetzungen um politische Gestaltungsfragen gehen immer auch Kontroversen um den politischen Ordnungsrahmen mit ein. Die politische Ordnung wird selbst zum Gegenstand des Streites: Wie soll das politische System geordnet werden, also: Auf der Suche nach einer guten Verfassung? Es muss tiefer nachgefragt werden. Da gibt es ein klassisches Exempel: Die griechische Debatte über die Demokratie, darin besonders die Beiträge von Herodot und Aristoteles.
1. Akt: Herodot und Aristoteles
Fast alle Argumente, die in Herodots „Verfassungsdebatte“ für oder gegen eine bestimmte politische Ordnung auftauchen, sind heute noch im Umlauf. Herodots Text ist wegen seiner Terminologie, aus der mit einigen Bedeutungswandlungen der Grundwortschatz unserer heutigen politischen Sprache entstanden ist, soweit es um politische Ordnungen geht, für Schülerinnen und Schüler fast auf Anhieb verständlich.

Ein Tyrann ist gestürzt worden, die Verschwörer streiten sich nach ihrem Erfolg über die zukünftige politische Ordnung des Staates: Soll es nur einen Herrscher geben (Monarchie)? Sollen die Besten herrschen (Oligarchie)? Oder soll das Volk herrschen (Demokratie)? Die Schülerinnen und Schüler tragen diese Debatte selbst aus. Aber sie führen diese Debatte richtig als Debatte durch, stellen sich jeweils auf die Standpunkte von Otanes, Megabyzos und Dareios, probieren ihre Argumente im Streit miteinander durch, um sie zu klären und um durch diese Klärung möglicherweise einen Ausweg aus der ewigen Gefahr des Verlustes von Maß und Urteil zu finden.
Die Schülerinnen und Schüler bereiten solche Verhandlungen vor, um sie selbst zu führen. Je (fast) ein Drittel der Klasse übernimmt die Positionen der Demokraten, der Oligarchen und der Monarchisten; sie bekommen als Rollenkarten den jeweiligen Textauszug aus der „Verfassungsdebatte“ (→ 42ff). Einige Schüler führen das Protokoll.
Die Demokraten halten es für wesentlich, dass das ganze Volk an der Politik beteiligt ist, aber die anderen beiden Gruppen bezweifeln, dass das Volk politisch genügend urteilsfähig ist; die Oligarchen beanspruchen zwar alle politischen Fähigkeiten für sich, aber es gelingt ihnen nicht, den Vorwurf auszuräumen, letztlich nur nach eigenem Vorteil zu entscheiden; dem König trauen die anderen zwar zu, in kritischen Situationen schnell handeln zu können, aber auf Dauer wird er den Bezug zur Realität verlieren und in der Spezialwelt seiner Schmeichler leben (s. Tafelbild → 46). In einer Verhandlungspause wird der ganze Text der Verfassungsdebatte geklärt und die Klasse kommt zu dem Ergebnis, dass – erstaunlich – alle drei Auffassungen verständlich sind. Die Herrschaft eines Einzelnen kann in bestimmten Situationen effizient sein; wenn mehrere herrschen, die schon große Erfahrung haben, dann wachsen Sachkunde und Führungsfähigkeit; die Beteiligung aller an der Politik ist schon deshalb vernünftig, weil dann eine größere Zufriedenheit der Bürger zu erwarten ist. Die nähere Betrachtung der Nachteile lässt erkennen, dass sie alle dieselbe Ursache haben: Die Neigung der Menschen zu Maßlosigkeit und Unvernunft. Es entsteht ein Tafelbild wie auf → 33. Ob im Unterricht das griechische Wort „Hybris“ eingeführt wird und eine wichtige Bedeutung bekommt, entscheidet der Lehrer von Fall zu Fall.
Abb. 4: Verfassungsverhandlungen
Aus dieser Beobachtung entsteht der Wunsch nach einem politischen System, das alle Vorteile in sich vereint und die Gefahr von Maßlosigkeit und Unvernunft reduziert. Diese Gefahr wird sich nicht beseitigen lassen, weil Menschen eben Menschen sind, aber es muss doch Möglichkeiten geben, dafür zu sorgen, dass solchen Menschen, denen im Laufe der Zeit ihres politischen Wirkens Maß und Vernunft abhanden kommt, Macht und Einfluss entzogen wird. Aber wie kombiniert man diese verschiedenen Anforderungen? Das lässt sich theoretisch nicht ableiten, das muss ausgehandelt werden. Es kann vorkommen, dass ein Schüler sagt: „Dieses politische System, das der Herodot nicht kannte, haben wir schon: Das Volk wählt die Abgeordneten, also die, die sich auskennen, und die wählen dann für das schnelle Handeln die Regierenden. Damit keiner von den Gewählten nur noch an sich selbst denkt, wird er nur für ein paar Jahre gewählt!“ Das ist schon nicht falsch, aber es muss noch genauer ausgehandelt werden, damit es erklärt und begründet werden kann.
Es gibt es eine zweite Runde der Verhandlungen. Die Gruppen klären vorher intern, was sie den anderen Gruppen an Zugeständnissen anbieten können und was für sie unverzichtbar ist. Bündnisse werden angeboten: Die „Oligarchen“ bieten beispielsweise den „Demokraten“ ein aktives Wahlrecht an, wollen das passive Wahlrecht aber beschränkt halten; die „Monarchisten“ wollen alle „Oligarchen“ zu Beratern des Königs machen; die Demokraten wollen zwar das volle aktive und passive Wahlrecht, können sich aber eine besondere Rolle der Oligarchie durchaus vorstellen. Meist kommt es in diesen Verhandlungen zu keinen Einigungen, weil eine der drei Gruppen eine hervorgehobene Stellung beansprucht.
Dann muss man eben in die Arbeitsgruppen gehen. Es werden kleine Gruppen gebildet, in denen jede der drei Richtungen vertreten ist. Es soll das Gerüst einer Verfassung entworfen werden, die die drei Vorteile - Effizienz, Fachkunde und die Beteiligung aller - enthält und die Gefahr der Hybris vermeidet. Die verschiedenen Gruppen erarbeiten, durchaus mit Rückgriff auf gegenwärtig bekannte politische Systeme, verschiedene Verfassungen und stellen sie sich gegenseitig vor. Dabei wird den Schülern allmählich bewusst, dass es darum geht, die verschiedenen Aufgaben eines Staates unterschiedlichen Einrichtungen zuzuordnen, die zueinander in einem Kooperations- und Kontrollverhältnis stehen. Die Schülerinnen und Schüler können diese Verfassung für sich akzeptieren, weil sie sie selbst erarbeitet haben und erläutern können.


Herodot – Verfassungsdebatte: Für die Herrschaft des Volkes

Als die Erregung sich gelegt hatte und fünf Tage vorüber waren, hielten die Verschwörer Rat über die Verfassung des Reiches, und es wurden folgende Reden gehalten, die zwar einigen Hellenen unglaublich erscheinen, die aber trotzdem wirklich gehalten wurden. Otanes sprach sich dafür aus, die Herrschaft an das ganze persische Volk zu geben. Er sagte:
„Ich halte dafür, das nicht wieder ein einziger über uns König werden soll. Das ist weder erfreulich noch gut. Ihr wisst, wie weit Kambyses sich von seinem Hochmut hat hinreißen lassen; ihr habt auch den Hochmut des Magers gekostet. Wie kann die Alleinherrschaft etwas Rechtes sein, da ihr gestattet ist, ohne Verantwortung zu tun, was sie will? Auch wenn man den Edelsten zu dieser Stellung erhebt, wird er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Das Gute, das er genießt, erzeugt Überhebung, und Neid ist dem Menschen schon angeboren. Wer aber diese zwei hat, hat alle Schlechtigkeit beisammen. Er begeht viele Verbrechen: einige, übersättigt, aus Selbstüberhebung, andere wieder aus Neid. Freilich sollte er ohne Missgunst sein, denn ihm als Herrscher gehört ja alles. Doch das Gegenteil davon ist der Fall. Er missgönnt den Edelsten Leben und Luft, er freut sich der Elendesten. Trefflich weiß er den Verleumdungen sein Ohr zu leihen. Am sonderbarsten von allem ist, dass er sich über maßvolle Anerkennung ärgert, weil man nicht ehrerbietig genug sei, und sich über hohe Ehrerbietung ärgert, weil man ein Schmeichler sei. Und damit ist das Schlimmste noch nicht gesagt: er rührt an die altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt die Weiber, er mordet, ohne rechtlich zu verurteilen. Die Herrschaft des Volkes aber hat vor allem schon durch ihren Namen – Gleichberechtigung aller – den Vorzug; zweitens aber tut sie nichts von all dem, was ein Alleinherrscher tut. Sie bestimmt die Regierung durchs Los, und diese Regierung ist verantwortlich; alle Beschlüsse werden vor die Volksversammlung gebracht. So meine ich denn, dass wir die Alleinherrschaft abschaffen und das Volk zum Herrscher machen; denn auf der Masse beruht der ganze Staat.“
Das also war die Meinung, die Otanes aussprach.
Nach Herodot 1971: Historien, übersetzt von August Horneffer, Stuttgart: Kröner, 4. Auflage, S. 217f (III 80ff), bearbeitet HL.
Aufgaben:
  1. Die Verhandlungen beginnen mit einer Runde, in der jede Gruppe ihre eigene Auffassung vorstellt und gegen die Positionen der anderen Gruppen abgrenzt. Bereitet Euch auf diese Gesprächsrunde vor!
  2. In der nächsten Runde kommt es zu Verhandlungen zwischen den drei Gruppen, in denen eine gemeinsame Verfassung erarbeitet werden soll. Überlegt Euch, welche Eurer Positionen für Euch unverzichtbar sind, welche Zugeständnisse ihr den anderen Gruppen machen Die könnt und welche ihr von den anderen Gruppen verlangen wollt. (Aber immer bedenken: Wenn die Verhandlungen scheitern, droht ein neuer Bürgerkrieg!)


Herodot – Verfassungsdebatte: Für die Herrschaft der besten Männer

Als die Erregung sich gelegt hatte und fünf Tage vorüber waren, hielten die Verschwörer Rat über die Verfassung des Reiches, und es wurden folgende Reden gehalten, die zwar einigen Hellenen unglaublich erscheinen, die aber trotzdem wirklich gehalten wurden. Otanes sprach sich dafür aus, die Herrschaft an das ganze persische Volk zu geben. Megabyzos dagegen riet zur Oligarchie und sagte:
„Was Otanes über die Abschaffung des Königtums sagt, ist auch meine Meinung. Wenn er aber rät, die Menge zum Herrn zu machen, so hat er damit nicht das Rechte und Beste getroffen. Es gibt nichts Unverständigeres und Hochmütigeres als die blinde Masse. Wie unerträglich, dass wir die Selbstüberhebung der Tyrannen mit der Selbstüberhebung des zügellosen Volkes vertauschen sollen! Jener weiß doch wenigstens, was er tut; aber das Volk weiß es nicht. Woher sollte dem Volke Vernunft kommen? Es hat nichts gelernt und hat auch in sich selber keine Vernunft. Ohne Sinn und Verstand, wie ein Strom im Frühling, stürzt es sich auf die Staatslenkung. Nur wer den Persern Unheil sinnt, spreche vom Volk! Wir sollten vielmehr einem Ausschuß der besten Männern die Regierung übertragen. Zu diesen Männern gehören wir ja selber. Es ist doch klar, dass von den Adligsten auch die edelsten Entschlüsse ausgehen.“
Nach Herodot 1971: Historien, übersetzt von August Horneffer, Stuttgart: Kröner, 4. Auflage, S. 217f (III 80ff), bearbeitet HL.
Aufgaben:
  1. Die Verhandlungen beginnen mit einer Runde, in der jede Gruppe ihre eigene Auffassung vorstellt und gegen die Positionen der anderen Gruppen abgrenzt. Bereitet Euch auf diese Gesprächsrunde vor!
  2. In der nächsten Runde kommt es zu Verhandlungen zwischen den drei Gruppen, in denen eine gemeinsame Verfassung erarbeitet werden soll. Überlegt Euch, welche Eurer Positionen für Euch unverzichtbar sind, welche Zugeständnisse ihr den anderen Gruppen machen könnt und welche ihr von den anderen Gruppen verlangen wollt. (Aber immer bedenken: Wenn die Verhandlungen scheitern, droht ein neuer Bürgerkrieg!)

Herodot – Verfassungsdebatte: Für einen Alleinherrscher

Als die Erregung sich gelegt hatte und fünf Tage vorüber waren, hielten die Verschwörer Rat über die Verfassung des Reiches, und es wurden folgende Reden gehalten, die zwar einigen Hellenen unglaublich erscheinen, die aber trotzdem wirklich gehalten wurden. Otanes sprach sich dafür aus, die Herrschaft an das ganze persische Volk zu geben, Megabyzos dagegen riet zur Oligarchie. Als dritter sagte Dareios seine Meinung und sprach:
„Was Megabyzos gegen die Masse gesagt hat, billige ich, nicht aber, was er über die Oligarchie sagt. Drei Verfassungen sind möglich; nehmen wir sie alle in ihrer höchsten Vollendung an, stellen wir uns also die vollkommenste Demokratie, die vollkommenste Oligarchie und die vollkommenste Monarchie vor, so verdient die letztere, behaupte ich, bei weitem den Vorzug. Es gibt nichts Besseres, als wenn der Beste regiert. Er wird untadelig für sein Volk sorgen, und Beschlüsse gegen Feinde des Volkes werden am besten geheim gehalten werden. In der Oligarchie, wo viele sich um das Allgemeinwohl verdient machen wollen, pflegt es zu heftigen Privatfehden zu kommen. Jeder will der Erste sein und seine Meinung durchsetzen; so verfeinden sie sich aufs ärgste miteinander, Unruhen entstehen, und in den Unruhen kommt es zu Mordtaten. Das pflegt dann wieder zur Monarchie zu führen, und man sieht daraus, dass sie doch die beste Verfassung ist. Herrscht dagegen das Volk, so kann es nicht ausbleiben, dass Schlechtigkeit und Gemeinheit sich einstellen. Drängt sich aber die Schlechtigkeit in die Sorge um die Allgemeinheit, so kommt es zwar nicht zu Fehden unter diesen Schlechten, aber umgekehrt zu festen Verbrüderungen. Sie verschwören sich gleichsam, um den Staat auszubeuten. Das dauert so lange, bis ein Führer des Volks ihrem Treiben ein Ende macht. Und dafür preist ihn dann natürlich das Volk, und der Gepriesene wird Alleinherrscher! So zeigt sich auch hier wieder, dass die Monarchie die beste Verfassung ist. Um aber alle Gründe für und wider zusammenzufassen: wie ist denn Persien frei geworden? Wer hat ihm die Freiheit geschenkt? Das Volk, die Aristokraten oder ein Monarch? Ich meine, weil wir durch einen Alleinherrscher die Freiheit gewonnen haben, müssen wir daran festhalten, und überhaupt sollten wir die altüberlieferte Verfassung nicht umstoßen. Das ist vom Übel.“
Nach Herodot 1971: Historien, übersetzt von August Horneffer, Stuttgart: Kröner, 4. Auflage, S. 217f (III 80ff), bearbeitet HL.
Aufgaben:
  1. Die Verhandlungen beginnen mit einer Runde, in der jede Gruppe ihre eigene Auffassung vorstellt und gegen die Positionen der anderen Gruppen abgrenzt. Bereitet Euch auf diese Gesprächsrunde vor!
  2. In der nächsten Runde kommt es zu Verhandlungen zwischen den drei Gruppen, in denen eine gemeinsame Verfassung erarbeitet werden soll. Überlegt Euch, welche Eurer Positionen für Euch unverzichtbar sind, welche Zugeständnisse ihr den anderen Gruppen machen könnt und welche ihr von den anderen Gruppen verlangen wollt. (Aber immer bedenken: Wenn die Verhandlungen scheitern, droht ein neuer Bürgerkrieg!)

Argumente in einer Dreiecksdiskussion - Protokoll
Vorstellungsrunde:
Monarchie: Der Monarch kann schnelle Entscheidungen treffen und trägt die Verantwortung und versucht daher, die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Außerdem können diese wichtigen Entscheidungen geheim gehalten werden. Die Geheimhaltung verhindert, dass unangenehme oder falsche Entscheidungen im Allgemeinen an die Öffentlichkeit kommen oder zu früh. Im Fall eines Angriffes müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden. Einzelverantwortung führt zu den besten Entscheidungen und stellt die Zugehörigkeit klar.
Oligarchie: Nur die besten Männer regieren, die das meiste Geld und somit auch die beste Bildung haben. Gewaltenteilung verhindert Machtmissbrauch eines einzelnen. Es können alle Blickwinkel erfasst werden und in der zutreffenden Entscheidung berücksichtigt werden, damit man das Beste für alle sieht, nicht nur für eine einzelne Person. Da mehrere und nur die besten Männer regieren, die das meiste Geld und somit auch die beste Bildung haben, können diese alles überblicken. Weil mehrere regieren, treten mehrere Interessen auf. Außerdem kommen mehrere auf die absolut richtige Entscheidung. Gewaltenteilung fördert gegenseitige Kontrolle und verhindert Machtmissbrauch.
Demokratie: Alle Bürger sind vom selben Stand und gleichberechtigt. Jeder darf, kann und soll seine Meinung bekannt geben und bei Entscheidungen mitwirken. Die Amtsvergabe erfolgt regelmäßig, damit kein Amtsmissbrauch entsteht. Arme werden nicht ausgebeutet. Rechte und Pflichten sind für alle Bürger gleich. Es gibt keine Gesellschaftsschichten und dadurch werden Arme nicht ausgebeutet. Freie Meinungsäußerung ist ein Grundrecht der Menschen. Jeder Erwachsene darf an Wahlen teilnehmen und in ein Amt gewählt werden. Der Amtsinhaber wird in kürzester Zeit gewechselt, damit kein Amtsmissbrauch entsteht. Es gibt keine Bevorzugung aufgrund von besonderer Abstammung.
Oligarchie und Demokratie befragen die Monarchie: Warum trifft der Monarch falsche Entscheidungen, die geheim gehalten werden müssen? Aber der Monarch sollte dafür sorgen, dass es keinen Krieg gibt, sondern für Frieden sorgen. Weshalb wird ein König oder Kaiser durch Erbfolge bestimmt und nicht nach seinen Fähigkeiten?
Monarchie und Oligarchie befragen die Demokratie: Ist es nicht viel zu aufwändig, die Amtsinhaber so häufig zu wechseln? Dauert nicht der Entschluss zu einer Entscheidung viel zu lange, wenn alle Meinungen angehört werden sollen? Sind überhaupt alle Menschen in der Lage einen sinnvollen Beitrag für eine Entscheidung dazu zu tragen?
Monarchie und Demokratie befragen die Oligarchie: Wie kommt ihr dazu, Euch für was Besseres zu halten? Warum haben nur die Reichsten die Möglichkeit, sich zu bilden und die Chance zu regieren? Da die Regierenden aus einer höheren Schicht kommen, können sie sich nicht in die Lage der einfachen Bevölkerung versetzen. Ihr werdet immer vor allem gegeneinander kämpfen. Da die Regierenden zur selben Gesellschaftsschicht gehören, entsteht Vetternwirtschaft.
Eine Schülerin Kl. 9
Tabelle 7: Zu den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Verfassungen (Tafelbild)
VorteileNachteile
Einer herrscht- kein Streit
- das Beste geschieht
- Geheimhaltung
- Schnelligkeit
- kann mit dem Volk machen, was er will
- wird überheblich
- denkt nur an sich
Mehrere herrschenKönner mit verschiedenen Meinungen- Alles dauert lange
- sie streiten sich
- einer will sich durchsetzen
Alle herrschen- Alle Meinungen sind vertreten
- alles wird für das Volk entschieden
- Gleichberechtigung aller
- Das Volk ist ungebildet.
- die Leute denken auch egoistisch
- sie streiten sich


Argumente in einer Dreiecksdiskussion (Protokoll)
Verhandlungsrunde: Zuerst brachte jede Gruppe ihren Vorschlag dar.
Die M-Verfechter (=die Gruppe um den Monarchen) waren dafür, dass die Monarchie bestehen bleibt, aber von den 10 klügsten Männern beraten werden sollte (Kompromiss zur Oligarchie)
Die O-Verfechter (Oligarchen) wollten sich vom Volk aus einer Gruppe von Experten wählen lassen. Dadurch wollten sie eine gewisse Kompetenz zeigen und die Oligarchie nicht missbrauchbar machen.
Die D-Verfechter (Demokraten) waren auf allgemeiner Ebene einig mit den O-Verfechtern. Da die M-Verfechter sich am Rande sahen, lenkten sie ein, dass 20 Berater gestellt werden könnten, diese sogar vom Volk gewählt. Der Monarch hört ihre Meinung an. Dadurch gingen sie einen tieferen Kompromiss mit der Oligarchie ein und wollten auch die Demokraten zur Einsicht lenken.
Die O-Verfechter wandten ein, dass Berater überhaupt nichts brächten, weil der Monarch immer noch unumschränkt wäre. Die M-Verfechter konterten, dass man sich ja nur mal die gesamte politische Lage anschauen müsse: die sei instabil durch die vielen Vetorechte und die Kompromisse. Da bräuchte man einfach einen starken Mann, der alles in die Hand nimmt. Die O-Verfechter sahen das nicht ein und wandten den zwangsläufigen Machtmissbrauch ein. Doch die M-Verfechter sagten, der Monarch solle nicht nur sein eigenes Interesse durchbringen.
Da meldeten sich auch die Demokraten wieder zu Wort und wandten ein, dass die Berater doch gar nicht so gut seien, schließlich könnten sie bestochen werden. Die M-Verfechter verteidigten sich, dass, wenn sich alle Berater zusammenschließen würden, hätten sie ein kleines Vetorecht. Trotzig fügten sie hinzu, dass die Monarchie gar nicht so schlecht sein müsse.
Die O-Verfechter wurden hochmütig, da alle Kompromisse sich mehr oder weniger ihnen anglichen, dass sie die Besten seien und deshalb gewählt werden würden. Doch da wurden die D-Verfechter patzig und fragten, wie denn die Besten gewählt würden. Es seien die Experten, erwiderten die O-Verfechter. Doch die D-Verfechter gaben keine Ruhe. Sie wollten wissen, wie die Experten ausgesucht würden. Die O-Verfechter verdrehten die Augen: Experten seien nun einmal bekannt und stammten aus reichen Familien. Die D-Verfechter nörgelten aber, dass, wenn nur Reiche gewählt würden, es keine demokratische Gerechtigkeit mehr sei. Dann sollten die Gewählten sich wenigstens vorm Volk rechtfertigen. Damit waren auch die O-Verfechter einverstanden. Nun schaltete sich der Moderator (der Lehrer) ein und fragte, ob, wenn man jeder Zeit abgewählt werden kann, jeder aktives Wahlrecht habe. Die Oligarchen und Demokraten stimmten zu.
Nun fragte der Moderator weiter, ob jeder das passive Wahlrecht erhalten solle. Da protestierten die O-Verfechter. Es sollen ihrem Willen nach nur die Besten/Experten zur Wahl stehen. Diese sollte man per Casting suchen. Dem Casting stimmten auch die D-Verfechter zu. Da fragte einer, wer denn das Komitee stelle. Die O-Verfechter antworteten, dass die Experten eben die beste Qualifikation haben müssten. Da wandte jemand ein, dass sei nur eine Variante des Castings.
Bald wurde die Diskussion beendet und hier folgt das Fazit:
Die Monarchie wird von niemanden anerkannt (ehrlich gesagt, wollen die sich selber auch nicht). Der Oligarchie näherte sich das Meiste. Daraus kam der Schluss, dass alle sie am besten finden, vor allem, weil nach den Kompromissen das Volk ein wenig mitwählen darf. Bei den Verfechtern der Demokratie wurde bemängelt, dass sie sich unterwerfen und die Oligarchie unterstützen. Ganz zum Schluss wurden die einzelnen Gruppen bewertet.
Die D-Verfechter geben immer nach und zwar denjenigen, die sowieso in den Abgrund gehen. Das sahen diese aber nicht so. Ihrer Meinung würde die Oligarchie nicht untergehen, da sie durch demokratische Wahlen gestützt würde.
Eine Schülerin Klasse 11

In den Arbeitsgruppen ging die Einigung meist recht zügig vonstatten. So entstanden politische Systeme, die einerseits noch den Bezug zu Herodots Verfassungsdebatte erkennen ließen, in die andererseits auch schon das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler einfloss. Die Macht wurde geteilt, Ämter wurden geschaffen, die auf Zeit vergeben werden. Die Beziehungen zwischen dem Volk und den Ämtern werden geregelt.

Abb. 5: Verfassungsentwurf einer Arbeitsgruppe
Die Schülerinnen und Schüler gingen über Herodot hinaus. Durften sie das? Diese Frage wird mit Aristoteles geklärt. Für Schülerinnen und Schüler können jedoch Auszüge aus der „Politik“ von Aristoteles zu einem Problem werden; der Text liest sich sehr schwierig. Also habe ich aus der „Politik“ des Aristoteles einen lesbarer Text hergestellt (→ 49ff), der manchmal etwas frei in der Formulierung ist. Die „Politik“ ist der Extrakt von Aristoteles’ Vorlesungen. Der Lehrer spielt Aristoteles und trägt ihn vor. Bei der einen Klasse bleibt er enger am Text und die Schülerinnen und Schüler können ihn mitlesen, in einer anderen Klasse trägt er frei vor und die Lernenden bekommen den Text später, um ihn mit Hilfe von Aufgaben zu erschließen. Weil die Schülerinnen und Schüler die Gedanken von Aristoteles in ihren Verfassungsverhandlungen schon selbst entworfen haben, können sie die Aussagen von Aristoteles leicht verstehen; sie hören und lesen, was sie gerade selbst beim Entwerfen einer Verfassung gedacht haben, finden es hier aber in größerer Klarheit ausgedrückt.
Aristoteles bestätigt so, was die Schülerinnen und Schüler in ihren Verfassungsverhandlungen ausgehandelt haben. Er legt sich nicht in den Einzelheiten fest, die Schülerinnen und Schüler haben auch unterschiedliche Entwürfe. Aber im Regelfall passen sie zu dem, was Aristoteles analysiert hatte. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten danach Darstellungen des Textes von Aristoteles.


Aristoteles: Welches ist nun aber die beste Verfassung?
Die Ausgangsfrage
Wie sieht die beste Verfassung für die meisten Staaten und die beste Lebensweise für die meisten Menschen aus,
  • wenn man dabei weder einen Maßstab anlegt, dem die meisten Menschen nicht entsprechen können, weil eine zu große Bildung, besondere Naturanlagen und andere günstige Umstände dazu nötig sind,
  • noch eine Verfassung haben will, wie man sie sich unrealistisch als allerbeste wünschen könnte,
  • sondern eine Lebensweise, die den meisten Menschen möglich ist, und eine Verfassung, die die meisten Staaten annehmen können?

Der Staat
Ein Staat ist eine Gemeinschaft zum Zweck eines guten Lebens, in dem die Bürger ihre Fähigkeiten, am gemeinsamen sozialen und politischen Leben teilzuhaben, so weit wie möglich entwickeln können.
Der Staat besteht seiner Natur nach aus vielen sehr verschiedenen Menschen, verschiedenen Lebensformen und verschiedenen Interessen.
Die Regierung des Staatsmannes ist eine über Freie und Gleichgestellte.

Die Staatsbürger und die anderen
Bürger ist, wem in einem Staat die Teilnahme an der beratenden und richtenden Staatsgewalt offen steht. Bürger ist man aber nicht schon deshalb, weil man an einem bestimmten Ort wohnt. Denn auch die zugelassenen Ausländer und die Sklaven haben mit den Bürgern den Wohnort gemeinsam, und gehören dennoch nicht zu den Bürgern. Der Sklave ist nichts anderes als ein lebendiges Besitzstück im Haushalt und jeder ist ein Werkzeug, das viele andere Werkzeuge vertritt. Es steht dem Manne zu, über die Ehefrau und über die Kinder die Herrschaft auszuüben, und zwar bei beiden unter dem Gesichtspunkt, dass sie Freigeborene sind. Denn das Männliche ist von Natur aus mehr zum Führen bestimmt als das Weibliche, aber da gibt es Ausnahmen, und ebenso das Ältere und Vollendete gegenüber dem Jüngeren und Unvollendeten.

Verfassungsformen 1
Wer soll die oberste Gewalt im Staat besitzen? Entweder muss es die Volksmasse oder es müssen die Reichen oder die Tüchtigen oder es muss der Beste von allen oder ein Tyrann sein; jedoch hat jede dieser Möglichkeiten ihre Schwierigkeiten. Diejenige Art von Alleinherrschaft, welche auf das Gemeinwohl zielt, pflegen wir Königtum zu nennen; die Herrschaft von wenigen nennen wir Aristokratie, seien es die Besten oder wenige, die das Beste des Staates wollen; wenn endlich die Mehrzahl des Volkes den Staat mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verwaltet, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politie benannt.
Die schlechten Abarten dieser Verfassungen sind vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeia die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Einzelnen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen nützt, sieht keine von ihnen.

Der Streit um die richtige Verfassung
Die Demokratie entstand daraus, dass man in bestimmter Hinsicht gleich ist und meint, schlechthin gleich zu sein; weil nämlich alle von freier Herkunft sind, glaubt man, schlechthin gleich zu sein. Und die Oligarchie entstand daraus, dass man in einer Beziehung ungleich ist und nun meint, ganz und gar ungleich zu sein; weil man nämlich in Bezug auf den Besitz ungleich ist, wähnt man, schlechthin ungleich zu sein. Daraufhin beanspruchen die einen, mit Berufung auf ihre Gleichheit, bei allen staatlichen Dingen einen gleich großen Anteil zu haben; und die anderen verlangen, mit Berufung auf ihre Ungleichheit, einen größeren Anteil für sich. Beide Auffassungen haben nun eine gewisse Berechtigung, absolut aber sind sie verfehlt. Wenn die einen oder anderen nicht nach der Auffassung, die sie haben, entsprechend am staatlichen Leben teilhaben, revoltieren sie.
Deshalb kommen hauptsächlich zwei Staatsformen vor, die Demokratie und die Oligarchie. Dass ein Staat aber vollständig nach einer der beiden Gleichheiten geordnet ist, ist schlecht. Keine einzige dieser so eingerichteten Staatsordnungen ist von Dauer.
Ferner ist zu beachten, dass etliche Aristokratien, aber auch Oligarchien lange bestehen bleiben, weil die Regierenden sowohl mit denen, die nicht Vollbürger sind, als auch mit denen, die dazu gehören, richtig umgehen, indem sie ihnen kein Unrecht antun, das deren Ehre berührt und der großen Menge keines, das deren materiellen Interessen schädigt.
Eine gemeinsame Vorsichtsmaßnahme sowohl in der Demokratie als auch in der Oligarchie besteht darin, dass man niemanden zu unverhältnismäßig großer Machtfülle aufsteigen lässt, sondern eher versucht, kleine und langfristige Ämter zu vergeben als für kurze Zeit die höchsten Ämter, denn das verdirbt die Menschen, da nicht jedermann Glück zu ertragen imstande ist. Vor allem soll man die Gesetze so einrichten, dass keiner allzu mächtig werde an Einfluss, Freunden oder Geld.
Dass es mehrere Staatsformen gibt, hat seine Ursache darin, dass es in jedem Staat mehrere Bevölkerungsklassen gibt.
In allen Staaten gibt es drei wesentliche soziale Schichten, die sehr Reichen, die sehr Armen und als Dritte die Mittelschicht zwischen den beiden.
Der mittlere Besitz macht am leichtesten geneigt, der Vernunft zu gehorchen. Übermäßiger Reichtum und ebenso das Gegenteil, übermäßige Armut oder Schwäche oder eine gar zu verachtete Lebensstellung, machen es schwer, vernünftig zu bleiben. Die Reichen werden übermütig und schlecht im Großen, die Armen bösartig und schlecht im Kleinen.

Verfassungsformen 2
Zur Monarchie: Unter Gleichen ist es nicht gut, wenn ein einzelner Herr über alles ist, weder wenn keine Gesetze bestehen, also er selbst gleichsam die Stelle des Gesetzes vertritt, noch dann, wenn sie bestehen, und weder, wenn er als Tüchtiger über Tüchtige noch wenn er über Untüchtige als Untüchtiger Herr ist, und selbst dann nicht, wenn er sie an Tugend übertrifft.
Zur Politie: Jetzt aber wollen wir von der Politie handeln, denn die Politie ist eben, kurz gesagt, eine Mischung von Oligarchie und Demokratie. Es gibt verschiedene Formen dieser Zusammensetzung und Mischung von Oligarchie und Demokratie. Es gilt z. B. für demokratisch, die Staatsämter durchs Los, und für oligarchisch, sie durch Wahl zu besetzen, und für demokratisch, die Befähigung zu ihnen an kein Vermögen zu binden, für oligarchisch aber, sie von einem solchen abhängig zu machen; folglich entspricht es der Politie, aus beiden je eins zu entnehmen, aus der Oligarchie die Ernennung der Beamten durch Wahl und aus der Demokratie die Befreiung dieser Ernennung von einem Vermögen.
Zur Demokratie: Grundprinzip der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. Freiheit aber bedeutet zum einen Teil, dass man abwechslungsweise regiert und regieren lässt. Und das andere wäre, dass jeder lebt, so wie es ihm beliebt.
Auch wenn die einzelnen, aus denen das Volk besteht, keine besonders tüchtigen Leute sind, ist es dennoch möglich, dass die große Volksmasse, wenn sie zusammen tritt, besser ist als eine kleine Gruppe besonders tüchtiger Leute. Denn da eben diese viele sind, kann ja jeder einzelne von ihnen seinen Teil an Kenntnissen, Fähigkeiten und Einsichten besitzen, und wenn sie alle zusammenkommen, kann dadurch die Menge wie ein einziger Mensch werden, jedoch mit vielen Füßen und Händen und mit vielen Sinnen, ebenso kann es ja auch in Bezug auf die Sittlichkeit und den Verstand zugehen.
Zu den Gesetzen: Vor allem muss die oberste Staatsgewalt den Gesetzen zukommen, vorausgesetzt, dass diese wohlgeordnet sind, der Regierende soll aber, mag er einer sein oder mehrere, nur über das entscheiden können, was die Gesetze nicht genau zu bestimmen vermögen, weil nicht leicht über alles sich zutreffende allgemeine Regeln geben lassen.

Die Staatsgewalten
Es gibt in jeder Verfassung drei Teile, die der Verfassungsgeber einzurichten hat. Das sind die über die öffentlichen Angelegenheiten beratende Gewalt, die regierende Gewalt, d. h. was für Staatsämter man einrichten muss, mit welchen Machtbefugnissen man sie ausstatten muss und in welcher Weise ihre Besetzung vorgenommen werden muss, drittens endlich die richterliche Gewalt.

Die beste Demokratie
Die beste Art demokratischer Bevölkerung ist die ackerbauende, und deshalb kann man auch die beste Art von Demokratie dort haben, wo die Menge von Landbau oder Viehzucht lebt. Denn weil die Bauern nicht viel Vermögen besitzt, haben sie nicht die Muße, häufig Volksversammlungen zu halten; weil sie aber doch andererseits das Nötige haben, so sind sie auch eifrig bei ihrer Arbeit und begehren nicht nach fremden Dingen, sie haben mehr Lust zu arbeiten, als den Staat zu verwalten und zu regieren, wo nicht etwa die Staatsämter großen Gewinn bringen. Denn nach Gewinn trachtet die große Masse mehr als nach Ehre. Und besitzen sie auch einen gewissen politischen Ehrgeiz, so befriedigt doch die Berechtigung, ihre Beamten zu wählen und zur Verantwortung zu ziehen, dieses Bedürfnis.So ist es in dieser Demokratie möglich und auch tatsächlich üblich, dass zu einem jeden Amt nur die zu ihm befähigten Leute gewählt werden. Auch die tüchtigen und hervorragenden Leute müssen mit dieser Ordnung der Dinge zufrieden sein, denn sie werden ja nicht von anderen, die schlechter sind, regiert und regieren selbst gerecht, da die Befugnis, sie zur Rechenschaft zu ziehen, anderen zusteht.Und so muss denn derjenige Zustand eintreten, welcher der heilsamste für die Staaten ist, dass nämlich die tüchtigen Leute regieren, aber in Schranken, die sie hindern, Fehltritte zu begehen, und dass zugleich die große Menge nicht zu kurz kommt.

Fragen zum Vortrag von Aristoteles:

Was soll die Verfassung können, nach der Aristoteles sucht?
Was ist ein Staat und wer gehört dazu?
Welche sechs Verfassungen gibt es? (Mache dazu eine Tabelle.)
Was ist das Besondere an Politie und Demokratie?
Welche Arten von Staatsorganen müssen eingerichtet werden?
Worin besteht der ständige Streit zwischen den Reichen und den Armen? Und warum ist es gut, wenn es viele „Mittlere“ gibt?
Wie sieht die beste Demokratie aus?

Aristoteles: Politik, Quellenangabe nach der Bekker-Paginierung, 1253b, 1255b, 1258b, 1261a, 1275a, 1279a, 1279b, 1280b, 1281a, 1281a, 1282b, 1288a, 1289b, 1294a, 1294b, 1295a, 1295b, 1297b, 1301b, 1308a, 1317a, 1317b, 1318b, 1318b, 1319a, bearbeitet HL

Zusammenfassung zu Aristoteles:
In dem Text „Welches ist nun aber die beste Verfassung?“ von dem griechischen Philosophen Aristoteles beschreibt er den Staat, die Bürger, die verschiedenen Verfassungen und ihre Probleme.
Zunächst beschreibt er Staat und Bürger. Nach Aristoteles ist ein Staat eine Gemeinschaft zum guten Leben, in der Probleme gemeinsam besprochen und gelöst werden. Bürger ist man, wenn man an der Politik teilnehmen kann und seine Interessen einbringen kann.
Die guten Verfassungen sind die, bei denen der Herrscher die Interessen und Probleme aller Bürger, egal ob sie arm oder reich sind, berücksichtigt. Eine schlechte ist die, wo der Herrschende nur an seine eigenen Interessen denkt und alle anderen tyrannisiert.
Die Gleichheit des Volkes spielt für das Funktionieren des Staates eine große Rolle. Die einen sagen, gleich sind die Bürger erst, wenn es keine Reichen mehr gibt, und die Reichen sagen, dass sie wegen ihrer Ungleichheit, also Überlegenheit mehr Anteil an dem Staat haben müssen. Nach Aristoteles sind beide Auffassungen falsch und zerstören den Staat, was auch richtig ist. Richtig wäre, dass alle politisch beteiligt werden, die Reichen etwas mehr, weil sie die Zeit dazu haben. Der Bauer könnte herrschen, aber er hat dazu keine Zeit, der arbeitet auf dem Land, um sich zu ernähren und hat nicht das Geld, um sich lebensnotwendige Güter nur zu kaufen, der Reiche aber schon. Die beste Lösung ist allerdings eine reiche Mittelschicht, denn sie lässt sich weder von den Reichen noch von den Armen zu sehr beeinflussen. Sie ist nicht so überheblich wie die Reichen, aber auch nicht so selbstmitleidig wie die Armen und kann so gerechter urteilen.
Jede Verfassung hat drei Gewalten: eine Gewalt ist für die Beratung der öffentlichen Angelegenheiten, also für die Interessen des Volkes zuständig. Eine Gewalt bildet die Regierung in Form von Staatsämtern, Staatsmännern und der Verteilung ihrer Macht. Die letzte Gewalt ist die, wie Aristoteles sagt, richterliche Gewalt, die die herrschende Ordnung und die Sicherheit verteidigen soll.
(Schülerin Klasse 9)

Was ist nach Aristoteles die beste Verfassung?
Die beste Verfassung ist nach Aristoteles eine Verfassung, die in den meisten Staaten funktionieren könnte, ohne unrealistisch zu sein. Einen Staat definierte er als eine Gemeinschaft zum Zwecke eines guten Lebens. Dieses wiederum wäre nur dann gegeben, wenn die Bürger ihre Fähigkeiten, am politischen und sozialen Leben teilzuhaben, so weit wie möglich entwickeln können. Zu einem Staat gehören nur Freie. Aristoteles vertrat die Meinung, dass man nur dann ein Bürger ist, wenn man wählen und gewählt werden kann. Wie in seiner Zeit üblich glaubte Aristoteles, dass der Mann zum Führen bestimmt sei und ein Sklave nichts anderes als ein lebendiges Besitzstück im Haushalt sei.
Bei Verfassungen unterschied er zwischen Monarchie (Königtum), Aristokratie und Politie/Demokratie sowie ihre negativen Ausgaben. Das Gegenstück zur Monarchie sei die Tyrannis, bei der ein Herrscher nur zu seinem eigene Vorteil herrschen würde., ohne sich um das Wohl des Volkes zu kümmern. Im Allgemeinen ist Aristoteles gegen eine Monarchie, egal ob sich der Monarch um sein Volk sorgt oder nicht. Die negative Form der Aristokratie ist die Oligarchie. In ihr herrschen statt der Besten die Reichen, wobei Aristoteles meint, dass die große Volksmasse zusammen besser ist und über mehr Kenntnisse, Fähigkeiten und Einsichten verfügt als eine kleine Gruppe sehr tüchtiger Menschen. Neben der Politie gibt es noch die Ochlokratie, die Aristoteles auch als Demokratie bezeichnet. Die Politie sei eine Mischung aus Oligarchie und Demokratie, wobei eine Demokratie seiner Ansicht nach nur den Armen nützt und die Reichen außen vor lässt. Weder die Demokratie noch die Oligarchie achte dabei auf das ganze Gemeinwesen und müsse daher zerbrechen.
In einem guten, langlebigen Staat gäbe es sinnvolle und wohlgeordnete Gesetze, die über dem/den Herrschenden stehen, und dieser darf nur noch über die Ungenauigkeiten bestimmen.
Aristoteles ist der Meinung, die Ursachen für die unterschiedlichen Regierungssysteme seien die unterschiedlichen Auffassungen über Gleichheit. Die einen appellieren an ihre Gleichheit im Punkt der freien und gleichen Herkunft, die anderen zeigen die sozialen Unterschiede auf und verlangen einen größeren Anteil für sich. Aus diesem Grunde gäbe es hauptsächlich Demokratien und Oligarchien. Dabei müssen beide Staatsformen die Vorsichtsmaßnahme treffen, niemandem zu viel Macht zu gewähren.
Die beste Verfassung nach Aristoteles diejenige, in der die Mittelschicht besp. Bauern bestimmen. Die Reichen verlören schnell den Maßstab und die Armen seien schnell bösartig und hätten eine verachtete Lebensstellung. Die Mittleren aber könnten auf die Vernunft hören, weil sie genug hätten, um nicht nach mehr gieren zu müssen und wenig genug, um viele Volksversammlungen abzuhalten. Dem Volk müsse man das Recht zugestehen, die Gewählten zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Fehltritte begehen.
Es muss Einrichtungen für die Gesetzgebung, für die Ausführung und für die Rechtsprechung geben.
(Schüler Klasse 10)


2. Akt: Moderne politische Systeme
Nun muss ein großer Sprung gemacht werden. Die Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten (nach Fischer 1971: 91-96), die die Schülerinnen und Schüler bei ihren Auseinandersetzungen mit Herodot und Aristoteles bislang gewonnen haben, müssen sich nun in der Übertragung auf gegenwärtige politische Systeme bewähren. Dabei soll ein Einblick in die Konstruktionen (und Konstruktionsprobleme und auch Konstruktionsmängel) moderner politischer Verfassungen gewonnen werden, damit - für deutsche Schülerinnen und Schüler - das Grundgesetz nicht als willkürliche Konstruktion erscheint. Sie sollen später das GG und seine verschiedenen Bestimmungen im Vergleich zu den Griechen und anderen westlichen Verfassungen einordnen können. In der Politikwissenschaft nennt man diese Art der Betrachtung „Vergleichende Regierungslehre“ (s. Lehner/Widmaier 2002).
Die politischen Systeme der USA, Englands, Deutschlands und der Schweiz können anhand von grafischen Darstellungen6 betrachtet werden, ein synoptischer Blick wird geübt (Arbeitsblatt → 55). Der Lehrer gibt erläuternde Kommentare.
Finden sich in der Konstruktion dieser Verfassungen die Überlegungen von Aristoteles? Wie wird das Volk an der Willensbildung beteiligt? Welche Möglichkeiten hat die politische Elite? Gibt es in dem Staat eine starke Führung? Wie wird die Möglichkeit einer einzigen Macht verhindert, in unkontrollierter Hybris den Staat zu zerstören? Wie steht es mit dem politischen Einfluss der verschiedenen sozialen Schichten?

So unterschiedlich diese politischen Systeme sind: Zunächst fällt den Schülerinnen und Schülern auf, dass sie kompliziert sind.
Zu den USA: Zwar gibt es ein ausgefeiltes System der Wahlen und der gegenseitigen Kon-trollen der politischen Institutionen, aber schon weil ein Wahlkampf in den USA unglaublich viel Geld kostet, sind in den USA die reichen Schichten und die gut organisierten und finanzkräftigen Interessengruppen im Vorteil. So zeigen die USA, dass ihr politisches System einerseits die griechische Diskussion verarbeitet hat, dass andererseits ihr politisches System mit Aristoteles fruchtbar kritisiert werden kann.
Zu Großbritannien: Die Gewaltenteilung ist eher schwach ausgeprägt, die politische Bedeutung der Gerichte ist gering. Kaum anzunehmen, dass Aristoteles mit diesem politischen System so ganz glücklich wäre…
Zu Deutschland: Es herrscht ein komplexes System der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung, in dem Gesetzgeber und Regierung eng miteinander verbunden sind. Das Verfassungsgericht entscheidet sehr unabhängig. Die Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch würden Herodot gefallen. Der Einfluss der Interessenverbände ist hingegen recht unübersichtlich. In Bundesangelegenheiten gibt es keine Volksabstimmungen. Wäre Aristoteles damit einverstanden?
Das politische System der Schweiz wird in Deutschland zwar einerseits von vielen hoch gelobt: In der „direkten Demokratie“ geschehe, was das Volk will, in der repräsentativen Demokratie geschehe dagegen das, was die Repräsentanten wollen. Also sei die direkte Demokratie „demokratischer“. Ein kompliziertes politisches System mit einem ebenso komplizierten politischen Prozedere schließt aus, dass eine einzige politische Kraft sich durchsetzt. Aber die Interessen gehen asymmetrisch in die politische Willensbildung ein: Die gut organisierten und gebildeten Interessen sind durchsetzungsstärker als andere (UZH-News 2011).

Diese modernen politischen Systeme des Westens können von Aristoteles her als Antworten auf die Frage nach der besten Verfassung verstanden werden. Dazu gab es eine Klassenarbeit → 56. Aber das schon für Herodot und auch für Aristoteles so wichtige Problem der politischen Gleichheit haben sie nicht endgültig lösen können: Alle Bürger sind formell gleich, aber dennoch sind einige faktisch gleicher als andere und haben mehr Einfluss als andere. Vielleicht lässt sich dieses Problem gar nicht lösen. Aber es lässt sich reduzieren. Aristoteles gab den Rat, im Staat möge es einen einflussreichen, die Auseinandersetzungen beruhigenden Mittelstand geben. Vielleicht kann man diesen Rat heute dahin gehend lesen, dass eine aktive Sozialpolitik jene soziale Sicherheit schafft, die die Bürger für ihre politische Aktivität benötigen.
Bis zu dieser Stelle kann dieses Lehrstück mit leichten Anpassungen in jedem Staat unterrichtet werden, der dieser europäischen Verfassungstradition verpflichtet ist. Die Grundzüge dieses Verfassungsdenkens sind für die Schülerinnen und Schüler bei allen konkreten Verschiedenheiten gut zu erkennen.
Das politische System der Europäischen Union könnte nun auch in den Blick genommen werden: Wie demokratisch ist die EU? Welcher Weg ist noch zurückzulegen? Oder sollte die EU eher zurückentwickelt werden?
In der weiteren Entwicklung dieses Lehrstücks könnte das Theorem der „Postdemokratie“ erörtert werden. Kann von der griechischen Diskussion, wie sie im Lehrstück entwickelt worden ist, mit den Schülerinnen und Schülern hierzu ein Beitrag geleistet werden?

Tabelle 8: Arbeitsmaterial für Schülerinnen und Schüler zu den Verfassungen
Vergleich der politischen Systeme
A: Wer setzt die Gesetzgeber ein?
B: Wer setzt die Regierenden ein?
A: Wer beschließt die Gesetze?
B: Wer regiert?
USA






Großbritannien






Schweiz






Deutschland






Europäische Union








Klassenarbeit:
1. Nimm Dir einen Entwurf zu einem politischen System von uns und eine der Grafiken für ein gegenwärtiges politisches System aus unserem Arbeitsheft und vergleiche beide: Was ist gleich oder zumindest ähnlich?
2. Warum gibt es diese Gleichheit oder Ähnlichkeit im Aufbau von Staaten?

1. Ich vergleiche den Entwurf (1) (hier auf → 29; HL) und das politische System der USA. In den USA werden die Gesetze von dem Kongress beschlossen, dessen Mitglieder werden vom Volk gewählt. Genauso ist es bei dem Entwurf, das Volk wählt den Berater-Kreis, der die Gesetze beschließt. Die Unterschiede bei der Gesetzgebung sind, dass der Präsident diese bei dem Entwurf mitbestimmt und das Volk Gesetze vorschlagen kann. Außerdem gibt es bei beiden eine Möglichkeit, den Präsidenten abzusetzen, bei dem Entwurf vom Volk und in den USA vom Kongress, wobei dieser den Präsidenten nur absetzen darf, wenn er eine Straftat begangen hat, siehe Watergate-Fall mit dem Präsidenten Nixon.
2. Es gibt diese Gleichheiten und Ähnlichkeiten, da sich dieses System als das ausdauerndste erwiesen hat und es sich so empfiehlt, die Gemeinsamkeiten zu übernehmen. Schon Aristoteles meinte, dass nur die Staaten, in denen das Volk mitbestimmen kann, die mit einer Langlebigkeit sind. Diese Gemeinsamkeiten sind, dass das Volk den Gesetzgeber wählen kann und so seine eigene Meinung beim Beschluss von Gesetzen einbringen kann. Außerdem wird der Regierungschef meist von den Gesetzgebern, die vom Volk gewählt worden sind, gewählt oder direkt vom Volk, so dass auch hier das Volk seine Meinung repräsentieren kann. Die Gewalten müssen sich ausgleichen und deswegen können die drei Gewalten sich in all diesen Staaten gegenseitig kontrollieren. Damit keine der Gewalten zu mächtig wird. Dazu gehören auch die Gerichte.
Ein weiterer Punkt für die Ähnlichkeit im Aufbau der Staaten ist, dass die Staaten, die ähnlich aufgebaut sind, besser kooperieren können und Bündnisse schließen können, dam an das System des anderen respektiert. Beispiel EU, hier kooperieren viele Staaten mit einem ähnlichen Aufbau miteinander.
Nach der Vorstellung von Aristoteles sollte es mehr direkte Demokratie geben durch Volksentscheide geben als in den jetzigen Staaten, Ausnahme die Schweiz, das liegt auch daran, dass die heutigen Staaten deutlich größer sind als die griechischen Stadtstaaten von damals und man für große Länder ein anderes System braucht als für ein kleines.
Das Volk kann in unserem System viel mitbestimmen, aber dennoch haben wir keine Pöbelherrschaft, da viele Strukturen nicht vom Volk bestimmt werden und die einzelnen Gewalten sich ausgleichen können. Aber andererseits hat man ohne das Volk keinen langlebigen Staat. Unser Aufbau des Staates hat diese Balance zwischen der Herrschaft aller und der Herrschaft weniger gut gemacht, weswegen der Aufbau von den meisten Staaten akzeptiert wird. Aber jeder Staat hat seine Eigenheiten, mit denen er sich auszeichnet. Nicht zu vergessen ist der starke Präsident, der in von jedem Staat gebraucht wird, um den vor den anderen zu vertreten und dem Volk eine Person zu geben, auf die es sich verlassen kann.
(Schülerin Klasse 10)

Klassenarbeit:
1. Nimm Dir einen Entwurf zu einem politischen System von uns und eine der Grafiken für ein politisches System aus unserem Arbeitsheft und vergleiche beide: Was ist gleich oder zumindest ähnlich?
2. Warum gibt es diese Gleichheit oder Ähnlichkeit im Aufbau von Staaten?

1. Ich vergleiche das politisches System der Schweiz mit Schaubild 1 (hier auf S.29; HL). Das Volk kann in beiden Fällen Gesetze vorschlagen oder sie, im Falle einer Volksabstimmung, sogar bestimmen, wenn genügend Unterschriften zustande kommen. Das Volk wählt in der Schweiz die Bundesversammlung, ähnlich wie im Schaubild der Beraterkreis. Dieser wählt den Präsidenten, in der Schweiz wird auf der Bundesrat gewählt, zu dem auch der Bundespräsident zählt. Der Rat wird für vier Jahre und der Präsident für ein Jahr gewählt. Der Beraterkreis im Schaubild und die Bundesversammlung beschließen Gesetze. Außerdem wählt die Bundesversammlung das Bundesgericht, was im Schaubild nicht vorkommt. Im Schaubild kann das Volk den Präsidenten absetzen, was in der Schweiz nicht möglich ist. Insgesamt sind sich die beiden Schaubilder in der groben Struktur recht ähnlich. Das Volk kann sehr viel mitbestimmen und sogar in die Gesetze eingreifen. Natürlich ist das System der Schweiz viel genauer dargestellt, doch das Schaubild ist nur ein Modell für einen Staat, den es so nicht gibt.
2. Ein Staat ist ein guter Staat, wenn das Volk so weit mitbestimmen kann, dass es zufrieden ist und es keine großen Aufstände und Unruhen gibt. Aristoteles untersuchte über 100 Staaten und kam zu dem Schluss, dass kein Staat über eine große Zeitspanne bestehen bleiben kann, wenn das Volk nicht angemessen mitbestimmen kann. In jeder Verfassung sollte es möglich sein, dass das Volk wählen kann und somit ein kleiner Kreis, in dem die Hauptinteressen von gebildeten Personen vertreten werden, entstehen kann. Dieser kleine Kreis wählt wiederum einen Präsidenten, der seiner Meinung nach das Volk am Besten regieren kann. Es wird eine bestimmte Amtszeit für diesen Präsidenten festgelegt, so dass sich die Meinung des Volkes ändern kann und ein neuer Kreis gewählt wird, der wiederum einen neuen Präsidenten wählen kann. Auf diese Art und Weise sollte sein, einen Staat gut und lange bestehen zu lassen.
(Schüler Klasse 10)


3. Akt: Deutschland, Grundgesetz und politisches System
Die Schülerinnen und Schüler müssen eine vollständige Ausgabe des Grundgesetzes in der Hand haben, eine Auswahl genügt nicht. „Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.“ So stand es in der Verfassung der Weimarer Republik (Art. 148). Ich habe die Verteilung der Grundgesetze einmal etwas feierlich gestaltet: Die Schülerinnen und Schüler kamen einzeln nach vorne und bekamen das kleine Buch persönlich überreicht. Mir schien, dass das Buch dadurch in den Augen der Schülerinnen und Schüler wichtiger wurde; sie fingen von allein zu lesen an, als sie wieder an ihrem Platz saßen und ich störte sie dabei auch nicht so bald durch unvermeidliche Arbeitsaufträge.

Eine Vorauswahl der zu lesenden Texte kann so aussehen:
Präambel
I. Die Grundrechte: Artikel 1, 2, 3, 5, 7, 8, 9, 14, 16, 17
II. Der Bund und die Länder: Artikel 20, 21, 28, 30, 31, 32, 33
III. Der Bundestag Artikel 38, 39, 42, 43, 45c, 46
IV. Der Bundesrat Artikel 50, 51
V. Der Bundespräsident: Artikel 54
VI. Die Bundesregierung: Artikel 62, 63, 64, 65, 67
VII. Die Gesetzgebung des Bundes: Artikel 76, 78, 79, 80, 82
VIII. Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung: Artikel 83, 87a, 88
IX. Die Rechtsprechung: Artikel 92, 93, 95, 97, 101, 102, 103, 104
XI. Übergangs- und Schlußbestimmungen: Artikel 116, 139, 146
(Es darf auch weniger sein.)
Die Schülerinnen und Schüler entnehmen dem Text die wesentlichen Aussagen zum politischen System, zeichnen nach diesen Aussagen eine Grafik der ihnen bekannten Art und erstellen einen beschreibenden Text dazu.
Wenn die Grafiken und Texte von den Schülerinnen und Schülern im Klassenzimmer vorgestellt werden, gibt der Lehrer zusätzlichen Erläuterungen, soweit die Schüler sie nicht schon selbst vortragen.
Hat das GG die Einsichten der Griechen eingearbeitet? Das könnte Gegenstand einer Klassenarbeit oder einer Hausaufgabe sein; jede Schülerin und jeder Schüler gibt sich auf diese Weise Rechenschaft über den Erkenntnisweg dieses Lehrstücks. Wie leistungsfähig ist das politische System Deutschlands? Wird auch immer mit der notwendigen politischen Kunst und fachlichen Kunde regiert? Ist das Volk ausreichend beteiligt oder fühlt es sich oft übergangen? Hat das deutsche politische System genügend Sicherungen gegen Machtmissbrauch? Die Schüler werden bei der Beantwortung dieser Fragen erkennen, dass zu den vielen institutionellen Sicherungen noch die besondere Bedeutung der den Staat abwehrenden und von Gerichten geschützten Grundrechte kommt.
Dann können im weiteren Verlauf des Unterrichts Einzelfragen zur politischen Ordnung in Deutschland erörtert werden, wie sie sich in einem ordentlichen Politiklehrbuch für die Mittelstufe finden. Damit kann nun schnell und lehrgangsmäßig weiter gearbeitet werden.

Aufgabe: Beschreibe das deutsche politische System nach dem Grundgesetz.
1. Welche Grundrechte haben die Bürger?
2. Wie arbeiten die verschiedenen politischen Einrichtungen zusammen?
3. Wertung: Kann unser politisches System die Gefahren, von denen die alten Griechen sprachen, verhindern? Wenn ja: Zeige das an einzelnen Regelungen!

1. Die Bürger in Deutschland haben die Grundrechte auf vollkommene Gleichberechtigung in jeder Hinsicht. Sie haben alle das Recht auf Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung. Sie dürfen sich frei entwickeln und ihre Interessen dürfen sie verfolgen, ohne dass jemand etwas dagegen tut. Man darf niemanden zu etwas zwingen. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist unantastbar und jeder deutsche Staatsbürger untersteht dem Schutz des deutschen Staates.
2. Deutschland ist in 16 Bundesländer unterteilt, die alle eine Regierung und Landtage haben. Die Landtage werden vom Volk gewählt.
Die Regierungen der Bundesländer bilden dann den Bundesrat, der wiederum zur Hälfte bei der Bildung des Bundesverfassungsgerichts mitbestimmt. Der Bundestag bestimmt da auch mit, der vom Volk gewählt wird und aus Parteien besteht.
Der Bundestag wählt auch die Bundesregierung, also den Bundeskanzler, der vom Bundespräsidenten vorgeschlagen wird. Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung gewählt, die aus den Bundesländern und dem Bundestag zusammen gesetzt wird. Der Bundestag ist genauso wie der Bundesrat und die Bundesregierung für die Gesetzgebung zuständig. Der Bundestag ist der wichtigste Gesetzgeber.
3. Ich denke schon, dass unser politisches System so aufgebaut ist, dass wird vor den Gefahren, von denen die alten Griechen sprechen, geschützt sind. Herodot meinte, dass es drei verschiedene Verfassungen gibt (Demokratie, Monarchie und Oligarchie). Alle diese Verfassungen haben Nachteile und Vorteile, keine ist perfekt und keine ist so gebaut, dass sie für immer einen Staat zusammenhalten kann.
Unser politisches System ist jedoch aus all diesen Verfassungen zusammen gesetzt und so aufgebaut, dass nur die Vorteile der Verfassungen hervortreten.
Die Probleme, von denen die Griechen sprachen, waren schließlich, dass in der Demokratie das Volk regiert, oder jeder, aber so auch die, die nichts von Politik verstehen; in der Oligarchie, meinten sie, würden die Besten versuchen, die anderen Regierenden auszuschalten, um die alleinige Macht zu haben; und in der Monarchie würde der König nur an sich denken und zum Tyrann werden.
All diese Problem können bei uns nun nicht auftreten, da wir das Volk haben, das die Besten wählt, so kommt niemand an die Macht, der keine Ahnung hat. Die Besten können die anderen nicht ausschalten und alleine an die Macht kommen. Und die oberste Macht kann nicht zum Tyrann werden und nur an sich denken, da die Besten ihn überwachen.
(Schülerin Klasse 10)
Gruppenarbeit und Hausaufgabe
1. Welche Grundrechte haben die Bürger?
Die Bürger dieses Staates haben viele verschiedene Grundrechte wie die Menschenrechte und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Sie haben das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, solange sie nicht die Rechte anderer verletzen, sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Außerdem sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und haben das Recht, ihre Meinung zu sagen. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Alle Deutschen dürfen sich friedlich und ohne Waffen versammeln, ohne eine Anmeldung oder Erlaubnis zu benötigen. Sie haben das Recht, alle Vereine und Gesellschaften zu bilden, die den Gesetzen nicht zuwiderhandeln. Zudem werden Eigentum und Erbrecht gewährleistet, wobei Eigentum Wohl des Volkes dienen soll. Der Staat kann niemandem die Staatsangehörigkeit entziehen, der keinem anderen Staat angehört. Zusätzlich darf kein Deutscher ans Ausland ausgeliefert werden und jeder hat das Recht, sich schriftlich an die Volksvertretung zu wenden.
2. Wie arbeiten die verschiedenen politischen Einrichtungen bei uns zusammen?
Das Volk wählt Abgeordnete aus den verschiedenen Parteien in den Bundestag. Zum Volk gehören Deutsche, die mindestens 18 Jahre alt sind. Der Bundestag besteht aus „Mehrheit“ (regierende Parteien) und „Opposition“ (andere Parteien. Er beschließt zusammen mit dem Bundesrat die Gesetze. Dieser besteht aus den Vertretern der Bundesländer und wirkt bei der EU mit. Die Bundesländern entsenden Vertreter in die Bundesversammlung, in der sie mit dem Bundestag zusammen den Bundespräsidenten wählen. Der Bundespräsident hat das Recht, den Bundeskanzler vorzuschlagen, den führenden Politiker der führenden Partei der Mehrheit, den der Bundestag dann wählt, sowie das Recht, auf Vorschlag des Bundeskanzlers die Minister zu ernennen und zu entlassen.
3. Wertung: Kann unser politisches System die Gefahren, von denen die alten Griechen sprachen, verhindern? Zeige dieses an einzelnen Regelungen!
Ja, unser System kann die Gefahren, die die alten Griechen gesehen haben, verhindern, mit Ausnahme des Problems, viel Zeit zu benötigen, um neue Beschlüsse zu tätigen. Da wir keinen Monarchen haben, der immer seinen Willen bekommt, besteht nicht die Gefahr der Willkür. Alle müssen sich an die Gesetze halten, und die Gerichte sind unabhängig von der Regierung. Durch die Gesetze ist die Meinungsfreiheit gesichert. Da auch keine Oligarchie besteht, kommt es zu keinen Privatfehden. Die regelmäßigen Wahlen verhindern, dass einzelne Personen oder Gruppen zu viel Macht erlangen. Damit das Volk nicht als „blinde Masse“ regiert, ermöglicht der Staat eine umfassende Bildung.
(Schüler Klasse 10)



Abb. 6: Das politische System Deutschland - Schülerentwurf 9. Klasse


3.3.4 Auswertungen
Exemplarisch - genetisch - dramaturgisch
Exemplarisch: Die Verfassungsdiskussion der Griechen wird als herausragendes Exempel aufgegriffen und an modernen Verfassungen fortgeführt. Die griechische Diskussion ermöglicht grundlegende Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten in das westliche Verfassungsdenken: Die Anforderungen an einen Staat und seine Gefährdungen. Da führt ein Weg des geschichtlichen Lernens von Athen nach Washington, Berlin, Bern, vielleicht auch nach Brüssel.
Natürlich gab es noch mehr Stationen. Rom wäre zu nennen, Polybius und die Mischverfassung des Cicero, und die mittelalterlichen Städte insbesondere in Italien. Aber exemplarisches Lehren ist auch bescheidenes Lehren: Es geht immer nur um den Kern der Dinge und die wesentlichen Stufen seiner Veränderung, damit die Schülerinnen und Schüler ein grundlegendes Begriffskonzept gewinnen, mit dem sie andere historische und politische Situationen dann verstehen und beurteilen können. Das Lehrstück von der Suche nach einer guten Verfassung ermöglicht kognitiv zweierlei: Zum einen ein genetisch erschlossenes begriffliches Verständnis politischer und politikwissenschaftlicher Kategorien, ein begriffliches Konzept rund um alles, was heute mit „Verfassung“ zu tun hat. Die innere Struktur des Lehrstücks (→ 64) stellt dieses genetisch-begriffliche Konzept bereit, indem es selbst der genetischen Logik dieses Konzeptes folgt.
Zugleich verweist dieses Exempel auf andere Bereichskonzepte. Dieses Lehrstück von der Suche nach einer guten Verfassung enthält selbst schon Verfassungsvergleiche; es verweist von sich weg auf die Europäische Union, auf Völkerrecht, auf die Geschichte der Verfassungen, auf Staatsphilosophie. Das kann in einer „thematischen Landkarte“ (s. → 65) dargestellt werden (Schulze in Berg/Schulze 1995: 388 nach Wagenschein).
Indem die Begriffe in Verhandlungen handelnd erschlossen werden, verweisen sie auf reale Handlungen in realen Systemen und weisen auf Fähigkeiten hin, die zu diesen Handlungen gehören. (Wenn es auch gewiss übertrieben wäre zu behaupten, in den Verfassungsverhandlungen ließe sich schon parlamentarisches Verhalten einüben wie in einem Parlamentarischen Rat.)
Genetisch: Es musste ein neues, Herodot jedenfalls noch nicht bekanntes Konzept für ein politisches System (nach-)erfunden werden, eine Schwelle musste überschritten werden. In diese Suche können die Schülerinnen und Schüler dank der Verfassungsdiskussion von Herodot eingebunden werden und dabei über Herodot hinaus die Lösung, die Aristoteles später fand, in ihren Grundzügen entwickeln.
Ob man das Ziel eines leistungsfähigen, aber gebändigten politischen Systems auf dem amerikanischen Weg erreicht mit einem starken Präsidenten und einem starken Kongress oder mit einem durch Tradition gebändigten Westminster-Parlament mit einer lautstarken Opposition oder mit der kontinentaleuropäischen parlamentarischen Demokratie wie beispielsweise in Deutschland oder als direkte Demokratie wie in der Schweiz, ist im Prinzip erst einmal gleichgültig.
Dramaturgisch: Der Ausgangspunkt der Debattenbeiträge ist die Notwendigkeit, nach dem Sturz der Diktatur dem (persischen) Staat eine neue Verfassung zu geben. Jeder der drei Redner hat für die Schülerinnen und Schüler „irgendwie“ Recht. Herodot kennt das Problem, aber er kennt nicht die Lösung. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten eine Lösung des Verfassungsproblems. Deren Prinzipien kennen sie zwar so ungefähr vorher, denn sie wissen schon einiges über das politische System Deutschlands, aber jetzt müssen sie einen konkreten und begründeten Vorschlag machen, der das bloß irgendwie Gewusste übersteigt. Die Grundzüge dieser (immer nur vorläufigen) Lösung hat schon Aristoteles gefunden: Das, worin die Streitenden Recht haben, muss klug kombiniert werden. So erschwert man den Ausbruch einer Staatskrise. Aristoteles entwirft sogar eine Lösung für Flächenstaaten. Die Schülerinnen und Schüler sehen mit ihrem selbst erarbeiteten Aristoteles-Blick auf die Schaubilder der modernen Staatsverfassungen und können erfassen, warum sie so und nicht anders konstruiert sind. Dieser Blick macht die Frage nach vielen Details möglich: Kann der US-Präsident wirklich (fast) nicht abgesetzt werden? Wie alt dürfen die US-Bundesrichter im Amt werden? Was hat das britischen Oberhaus wirklich zu sagen? Warum ist die deutsche Gesetzgebungsmaschine so langsam und ist das wirklich von Vorteil? Warum können die Schweizer zwar über ihre Gesetze in Volksabstimmungen abstimmen, haben auf die Zusammensetzung ihrer Regierung aber nur geringen Einfluss? Hat die Europäische Union eine demokratische Verfassung? Die Dynamik des Lehrstücks erzeugt auf diese Weise ständig neue Fragen; so manche Frage nach Einzelheiten in den verschiedenen Verfassungen kann der Lehrer gar nicht beantworten.
Das Lehrstück macht einen großen Sprung vom Beginn des griechischen Denkens über die beste Verfassung eines Staates bis in die Gegenwart. Kann man von Herodot und Aristoteles her Probleme und Lösungen der Gegenwart verstehen? Die Antwort lautet:

Herodot beschrieb das Problem, Aristoteles schuf die Grundzüge seiner Lösung,
  • moderne europäische Verfassungen lassen sich als konkrete Anwendungen dieser Lösungen verstehen,
  • die deutsche Verfassung (oder welche Verfassung dieses westlichen Typs auch immer) ist ein Beispiel dieser Lösung.
Doxastik und Lehrstückmethode
Der Lehrstück-Kern, in dessen Mittelpunkt Aristoteles mit seiner Suche nach einer guten Verfassung steht, bedient sich der von Aristoteles selbst entwickelten doxastischen Methode. Höffe beschreibt sie als die spezifische Forschungs-, Argumentations- und Darstellungsmethode von Aristoteles:

Danach kommt es generell auf dreierlei an:
1. Man muss die Phänomene sichern (tithenai ta phainomena),
2. die Schwierigkeiten durcharbeiten (diaporesai) und
3. die glaubhaften Ansichten (endoxa), zumindest die meisten und wichtigsten, beweisen (deiknynai).
„Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und die glaubhaften Ansichten übrigbleiben, hat man hinreichend bewiesen“. … die drei Elemente haben nicht die Bedeutung von genauen Vorgehensweisen, sondern die von methodischen Maximen. (Höffe: 96; um die Belegstellen gekürzt und in der Gliederung betont; HL).

Aristoteles hat damit nichts weniger als die erste wissenschaftliche Forschungs- und Darstellungsmethode entwickelt: Von den zu klärenden Phänomenen über die Unklarheiten, die sie umgeben, einschließlich der verschiedensten Erklärungsversuche, die es schon gibt, zu einer klaren Darstellung eines Resultats, dessen Weg offengelegt ist. Für Schülerinnen und Schüler ist dieser Gang nachvollziehbar. Auf diese Weise wird eine Unterrichtseinheit, die diesen Weg geht, zu einem nicht nur wissenschaftsorientierten, sondern zu einem wissenschaftspropädeutischen Unterricht, wenn er diesen Untersuchungs- und Entscheidungsgang selbst immer wieder in das Bewusstsein der Lernenden hebt (s. Reinhardt 1997: 78).
Es liegt nahe, die Abfolge der Schritte der doxastischen Methode auf das Lehrstück selbst anzuwenden. So wird sie zur Progressionsmethode des Unterrichts. Sie führt von der Exposition eines Problems in ein sich vertiefendes, oft auch erkenntnishaltige Fehler erzeugendes Suchen von Erklärungen und Lösungen, das in den gefundenen Fehlern und ihren erkannten Gründen schon die Möglichkeiten zu ihrem Verständnis und zu ihrer Entscheidung bereit stellt.
Mit Herodot erkennen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Verfassungsformen, ihre Leistungen und ihre Krisen und deren Ursachen. Über Herodot hinaus können sie jedoch Prinzipien für Lösungswege finden, die ihnen danach von Aristoteles bestätigt und vertieft erläutert werden.
Im Unterricht wird es deshalb von ganz allein zu der Frage kommen, wie mittels geschickter Einrichtung und Anordnung der Institutionen ihre Krise verhindert werden kann.
Die doxastische Methode ist nicht stufenlos voranschreitend, sie führt vielmehr den Erkenntnisvorgang in Wendungen - „sic et non“ (→ 20) - durch den Gegenstand und die zu ihm schon geäußerten Auffassungen, dabei kategoriale Kenntnisse und Erkenntnisse gewinnend. Weil Einsichten darin bestehen, dass nur noch bestimmte Verhaltensweisen als möglich angesehen werden, während andere als unbewährt ausscheiden, ist die doxastische Methode ein Weg, Einsichten zu gewinnen.

Tabelle 9: Die doxastische Methode
Aristoteles:
Die doxastische Methode
(nach Höffe)
Der innere Verlauf des Kerns der Unterrichtseinheit
1Einen genauen Blick auf das Phänomen werfen.Mit Herodot: Alle Verfassungen haben eine nachvollziehbare Begründung, aber sie sind dennoch instabil, denn die Inhaber politischer Ämter denken letztlich nur an sich selbst.
2Die Schwierigkeiten, das Phänomen zu verstehen, durcharbeiten. Für alle Verfassungen kann gezeigt werden, welche Vorteile sie haben und woran sie scheitern.
3Die zur Erklärung oder Einordnung oder Bewertung bekannten Auffassungen anderer betrachten, und daraus die eigene Auffassung in Abwägung des Phänomens und der Auffassungen anderer vortragen. Bei der Prüfung der gegensätzlichen Positionen in der Verfassungsdebatte kann aber auch erkannt werden, welche Vorrichtungen geeignet sein können, dieses Scheitern zu verhindern. So können taugliche Verfassungen entworfen werden. Diese können dann mit Aristoteles vertieft begründet und weiterentwickelt werden.

Strukturen
Abb. 7: Die genetische Abfolge des Lehrstücks

Diese Grafik ist von links unten im Uhrzeigersinn zu lesen: Sie benennt die Abfolge der inhaltlichen Schritte von Herodot über Aristoteles in die Moderne.


Abb. 8: Thematische Landkarte zum Lehrstück


Eine thematische Landkarte zeigt die Bezüge eines Exempels in verschiedene Zusammenhänge, die von ausgehend erschlossen werden können.

Kategoriale Bildung und Bildungsstandards
Dieses Lehrstück für den Politikunterricht soll mit verschiedenen didaktischen Ansätzen auf seinen Bildungsgehalt überprüft werden: Mit Kurt Gerhard Fischer und Wolfgang Hilligen, den beiden Klassikern der modernen Politikdidaktik und mit Wolfgang Klafki und seiner „Kategorialdidaktik“. Aktuell ist die Forderung, der Unterricht solle zur Ausbildung von „Kompetenzen“ bei den Schülerinnen und Schülern beitragen, deshalb wird dieses Lehrstück auch an der Kompetenzliste der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) gemessen:

Kurt Gerhard Fischer: Welche Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten (nach Fischer 1971: 91-96)) haben die Schülerinnen und Schüler an diesem Lehrstück gewonnen?
Die Kenntnisse und Erkenntnisse des Lehrstück-Kerns sind schnell aufgezählt, denn sehr viele sind es nicht: Verfassung, Monarchie, Tyrannis, Aristokratie, Oligarchie, Politie, Demokratie und Ochlokratie in ihren jeweiligen Besonderheiten, ihren Zusammenhängen und ihren Gegensätzen. Aber immerhin ergeben sie in ihrem Zusammenhang ein vollständiges System von Begriffen über einen zentralen Gegenstandsbereich der Politik und des Politikunterrichts. Zusätzlich gewinnen die Schülerinnen und Schüler Kenntnisse über Parlamente, Regierungen, Präsidenten, Wahlen und Volksabstimmungen in mehreren westlichen Ländern. Sie lernten ferner bestimmte Techniken der Arbeit mit Material – schematische Darstellung lesen und erstellen – kennen.
Wichtiger sind jedoch die Einsichten: Sie mussten Zusammenhänge zwischen Verfassungs- und Staatsformen einerseits und bestimmten unabschaffbaren, aber gestaltbaren menschlichen Eigenschaften erkennen: Stabilität ist immer wieder durch Gier und Verblendung gefährdet, diese Gefahr kann aber durch eine geschickte Gestaltung der Institutionen und ihres Verhältnisses zueinander in eine verringert werden. Die verschiedenen sozialen Kräfte müssen sich in der staatlichen Politik wieder finden.

Wolfgang Hilligen: Der Kern des Lehrstücks hat es mit der der fundamentalen Kategorie der gegenseitigen Abhängigkeit (nach Hilligen 1966: 10-20.) zu tun.

Tabelle 10: Das Verfassungslehrstück - Analyse nach Wolfgang Hilligen
Didaktische KategorienLehrstück
Fundamentale Erkenntnis: Abhängigkeit aller von allen Eine Ordnung, genannt Verfassung, ist erforderlich, um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Normale Menschen wollen in Stabilität und Frieden ihren Lebenswünschen – das ist mehr und anderes als Interessen – nachgehen.
Die Krisen, in denen Herodot jede politische Ordnung untergehen sieht, haben ihren Ursprung in einem falschen Verständnis dessen, was Menschen zusteht und was sie können: Hybris zerstört jede Ordnung. Aristoteles kann zeigen, dass es um das rechte Maß bei den Rechten der Einzelnen und der Institutionen geht. Das Mischsystem ermöglicht ein Miteinander im Gegeneinander, ein Gegeneinander im Miteinander.
Freiheit ↔ Ordnung:
Gehorsam und Widerstand
Gleichheit und Wettbewerb
Ausgleich und Kampf

Miteinander im Gegeneinander
Richtige und falsche LösungenAristoteles bietet keine sichere Lösung, aber doch klug anzuwendende Ratschläge. Die westlichen Verfassungen sind von dieser Tradition geprägt.
Raum des politischen KampfesDer Raum, in dem die Gruppen um den politischen Einfluss kämpfen, wird geschaffen. Von seiner Eigenart hängt die Stabilität des politischen Systems ab.

Das Lehrstück führt unmittelbar zur ersten fundamentalen Kategorie nach Hilligen: Wie regeln wir unsere gegenseitige Abhängigkeit politisch? Dieses Lehrstück setzte die Schülerinnen und Schüler anfänglich der fast permanenten Krise der politischen Unsicherheit aus, die ununterbrochen eigene Planungen, Entscheidungen und Handlungen verlangte. Es mussten Wertungen von politischen Grundsatzentscheidungen vollzogen werden, Präferenzen gebildet – Ist beispielsweise Stabilität wichtiger als die Beteiligung aller am politischen Prozess? – und eigene Bedürfnisse entdeckt werden. Dabei musste auf lange Sicht entschieden werden, wenn ein stabiles politisches System angestrebt werden soll. Öffentliche Verhandlungen, Gruppenarbeit und Präsentationen von (Zwischen-)Ergebnissen prägten das Lehrstück: Der einzelne Schüler musste sich exponieren, ob vor allen Mitschülern oder in seiner Arbeitsgruppe. Die Entwurfsentscheidungen wurden zu einem guten Teil klassenöffentlich vorgetragen, Planungsentscheidungen wurden in der Klasse oder der Gruppe offen gefällt. Die Verantwortlichkeit für das eigene Ergebnis war hoch. Der eigene Entwurf einer Verfassung verlangte die Berücksichtigung vieler Anforderungen. Damit wurde ein recht komplexes Denken eingeübt. Dem Charme simpler Lösungen, wie sie in der Politik oft vorgetragen werden, dürften diese Schülerinnen und Schüler so schnell nicht erliegen. Von dort haben die Schülerinnen und Schüler einen Überblick über westliche Verfassungen gewonnen.

Wolfgang Klafki: Das Ziel von Lehrstücken ist - wie bei jedem Unterricht - die Bildung der Schülerinnen und Schüler als Prozess und als Resultat. Klafki beschreibt als Aufgabe der Schule:

Das Sichtbarwerden von „allgemeinen“ Inhalten auf der Seite der Welt ist nichts anderes als das Gewinnen von „Kategorien“ auf der Seite des Subjekts. … Bildung ist also „kategoriale Bildung“ in dem Doppelsinne, daß sich dem Menschen seine Wirklichkeit kategorial erschlossen hat und daß eben damit er selbst dank der selbst vollzogenen kategorialen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist. (Klafki [1964] 1975: 298)

Diese „allgemeinen Inhalte“ hat der Unterricht so sichtbar zu machen, dass die Schülerinnen und Schüler in ihm ein geordnetes Verhältnis zum Gegenstand gewinnen können. Die Kategorien, an die Klafki hier denkt, sind nicht nur solche der jeweiligen Fachwissenschaft. Es geht um eine eigene Sicht des Lernenden auf die Welt, die gleichzeitig die Verständigung mit den anderen ermöglicht. Diese Verständigungsmöglichkeit beruht auf einer miteinander geteilten Begegnung mit Ausschnitten aus der Welt. So entstehen eine Kunde von den Gegenständen, ein Wissen von den Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit, sie jetzt und in Zukunft angemessen anzuwenden. Kategoriale Bildung ist vertraut-werden-mit…, umgehen-können-mit.., benennen können, Bescheid wissen über…

Der Kern des Lehrstück schafft solche kategoriale Bildung (nach „Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik [1959], in Klafki 1975: 25-45)
Tabelle 11: Das Verfassungslehrstück und die kategoriale Bildung nach Klafki
Fundamentale und elementare Kategorialbildung: Kategorialbildung wird überfachlich erweitert und betrifft Grundfragen und Grundlagen von Mensch und WeltDer Einzelne und die Demokratie:
Wenn auch die Verschiedenheit der Menschen, ihr Egoismus und manchmal ihre Hybris sie immer wieder auseinander zu treiben drohen, sie auch tatsächlich aus- und gegeneinander stellen, gelingt es dennoch immer wieder, dass Menschen unter Regeln friedlich miteinander leben. Es geht um die Erfahrung des Wunders der friedlichen Politik in der Demokratie.
Aus der Sicht eines Schülers: Politische Institutionen haben etwas mit dem Bild von Menschen zu tun, in ihnen finde ich Lebenserfahrungen von mir wieder, die mir das Verständnis vieler Schwierigkeiten in der Politik erleichtern. Hier gibt es Analogien; mit ihnen kann ich mich in ein Verhältnis zur „großen“ Welt der Politik setzen. Es ist unter kluger Beachtung vieler Bedingungen möglich, ein effizientes, kompetentes und von den Menschen unterstütztes politisches System aufzubauen, an dem ich teilhaben kann.
Kategorialbildung als wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt: Am Exempel bilden sich zunächst exemplarische Denkfiguren aus und damit fachliche Grund- und Leitbegriffe: KategorienZu diesem Problemkreis kennen die Schülerinnen und Schüler jetzt einige Begriffe und Zugangswege
Exemplarische Figur(en):
1. Die griechische Entwicklung: Die Verfassungsdebatte bei Herodot (Demokratie, Aristokratie, Monarchie und ihre Gefährdungen durch die menschliche Hybris), Platons Beschreibungen der Übergänge von einer Verfassungsform zu einer anderen, die Ordnung der Verfassungsformen nach Aristoteles und die Mischverfassung (Politie, Demokratie)
2. die Probleme demokratischer Verfassung in Europa
Grund- und Leitbegriff: Verfassung
Mit Aristoteles wird eine Verfassung für normale Menschen entworfen:
1. Voraussetzung: Eine breite Mittelschicht schafft politische Stabilität;
2. Institutionen: Alle Bürger sind am Staat beteiligt; das Wahlsystem sorgt für eine kompetente und handlungsfähige politische Führung.
Weitere Begriffe mit kategorialer Bedeutung:
Demokratie, Oligarchie, Aristokratie, Monarchie, Mischverfassung, Machtkontrolle, Egoismus und Unvernunft, Wahlen, Bürger, Regierung, Parlament, Gewaltenteilung, Öffentlichkeit, Fachkompetenz (s. dazu die Grafiken → 65f)
Die vier historischen Bildungstheorien
als Grundlage
Objektive Bildung: Herodot, Platon, Aristoteles, verschiedene westliche VErfassungen und ihre
Inhalte und Probleme
Klassische Bildung: Die drei Verfassungsformen nach Herodot; Platons Lehre von Aufstieg und Verfall der Verfassungsformen; die guten und die entarteten Verfassungen bei Aristoteles und sein Vorschlag der gemischten VerfassungFunktionale Bildung: Schwierigkeiten im (politischen) Zusammenleben erkennen, durchhalten und zu einer Lösung führen. Methodische Bildung: Aushandeln, Organisieren, Entwerfen und Entscheiden, politische Texte und Schaubilder lesen und selbst erstellen.
Materiale Bildung
Formale Bildung

Die GPJE hat einen Entwurf für Bildungsstandards für die politische Bildung vorgelegt (GPJE 2004). Kann dieses Lehrstück diesen Standards entsprechen? Die GPJE unterscheidet zwischen den Kompetenzbereichen „Politische Urteilsfähigkeit“, „Politische Handlungsfähigkeit“ und „Methodische Fähigkeiten“. Diese gliedert sie nach Schulstufen auf und untergliedert sie stufenangemessen weiter. Wird jede Kompetenz, die der Mittelstufe und der Oberstufe allgemeinbildender Schulen zugeordnet wird (GPJE: 21-26), als „ansatzweise“, „eingehend“ oder „gründlich“ erreicht eingeschätzt, ergibt sich, dass das Lehrstück alle Kompetenzbereiche und die meisten Einzelkompetenzen abdeckt:

Tabelle 12: Häufigkeit von Kompetenzen im Lehrstück
Politische UrteilsfähigkeitPolitische HandlungsfähigkeitMethodische Fähigkeiten
An-zahlgründlicheingehendansatzweiseAn-zahlgründlicheingehendansatzweiseAn-zahlgründlicheingehendansatzweise
Sekundarstufe 1
22
6
4
4
6
2
1
1
6
4
1
-
gymnasiale Oberstufe
7
1
2
1
2
-
-
1
7
1
3
-
Summe
29
7
6
5
8
2
1
2
13
5
4
-
Anteile
18 von 29 = 62%
5 von 8 = 63%
9 von 13 = 69%

Von den 50 einzelnen Nennungen von Kompetenzen werden 14 gründlich, 11 eingehend und 7 ansatzweise erarbeitet, also insgesamt 31.
Im Bereich der politischen Urteilsfähigkeit7 werden jene grundlegende Fragen des politischen Systems ausgiebig erörtert, die menschheitsgeschichtlich schon immer gestellt wurden, während ausgesprochen moderne Fragen wie die nach dem Sozialstaat zwar auftauchen, jedoch kaum eine Vertiefung erfahren. Wirtschaftliche Fragen werden nicht angesprochen. Die Schülerinnen und Schüler können in politischen Informationen politische Sachverhalte erkennen und strukturiert wiedergeben, insbesondere, wenn es sich um langfristig wirkende grundlegende politische Fragen handelt. Dabei lernen sie, politische Fragen aus der Perspektive von Politikern und Betroffenen zu sehen und Handlungsalternativen abzuwägen und über kontroverse Positionen zu einem mit Gründen versehenen Urteil zu kommen. Die Schülerinnen und Schüler der SekII lernen in diesem Lehrstück divergierende politisch-philosophische Grundhaltungen kennen. Sie schaffen dabei jene Strukturen, in denen der politische Entscheidungsprozess stattfindet.
Die politische Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler wird durch dieses Lehrstück in allen Dimensionen gefördert: Konfrontationen argumentativ bewältigen können, in Kontroversen einen Perspektivwechsel vollziehen, eine andere als die eigene Meinung vertreten und nach Verständigung suchen und dieses alles bei Diskussionen in der Klasse einüben. Für die auch genannten wirtschaftlichen Handlungsfähigkeiten hat dieses Lehrstück naturgemäß nichts zu bieten. Für das Engagement in konkreten politische Situationen werden die grundlegenden politischen Institutionen vorgeschlagen.
Zum Bereich der methodischen Fähigkeiten: Schülerinnen und Schüler können verschiedenen Medien nutzen, in Gruppen produktiv mitarbeiten und die Gruppenarbeiten nicht nur ergebnisorientiert mitgestalten, sondern tatsächlich zu Ergebnissen führen, sie können eine Expertenbefragung durchführen und ihre Arbeitsergebnisse (klassen-)öffentlich präsentieren, sie planen in Arbeitsgruppen ihre Arbeitsvorhaben, nutzen Präsentationstechniken, können mit politischen und einfachen politik-philosophischen Texten sicher umgehen.

Interpretiert man das Lehrstück mit dem Verständnis von politischer Bildung der GPJE (GPJE: 9ff), ergibt sich:
Das Lehrstück erweitert die Möglichkeiten der Schüler, am öffentlichen Leben teilzunehmen, es leistet einen Beitrag zur Demokratiefähigkeit junger Menschen. Es fördert die politische Mündigkeit, indem es die fundamentalen Probleme, die mit einer demokratischen Verfassung gelöst werden soll, in den Horizont der Schüler und Schülerinnen rückt. Damit wird ein Grundstein erfolgreicher demokratischer Partizipation gelegt. Die menschliche Dimension von Politik und der demokratischen Institutionen wird durchschaubar. Wenn auch die Verschiedenheit der Menschen und ihr Egoismus sie immer wieder auseinander zu treiben drohen, sie auch tatsächlich auseinander treiben und gegeneinander stellen, gelingt es dennoch immer wieder, dass Menschen unter Regeln friedlich miteinander leben. Es geht um die Erfahrung des Wunders der friedlichen Politik in der Demokratie. Aus der Sicht eines Schülers: Politische Institutionen haben etwas mit dem Bild von Menschen zu tun, in ihnen finde ich Lebenserfahrungen von mir wieder, die mir das Verständnis vieler Schwierigkeiten in der Politik erleichtern. Hier gibt es Analogien; mit ihnen kann ich mich in ein Verhältnis zur „großen“ Welt der Politik setzen. Es ist unter kluger Beachtung vieler Bedingungen möglich, ein effizientes, kompetentes und von den Menschen unterstütztes politisches System aufzubauen, an dem ich teilhaben kann.
Dieses Lehrstück konzentriert sich dabei auf die polity-Dimension von Politik. Ohne sie zu einer additiven Institutionenkunde zu verkürzen, wird der Sinn der verschiedenen Institutionen und ihres Miteinanders deutlich. Die anderen Dimensionen der Politik werden in der Arbeit an einer politischen Ordnung erfahren, wirtschaftliche, gesellschaftliche und rechtliche Probleme stehen zwar zurück, können aber an das Lehrstück passgenau angeschlossen werden. Indem das Lehrstück ein aktuelles Problem politischer Ordnung in der Weise behandelt, dass es nach dem Ursprung und dem Sinn dieser Ordnung fragt, leistet es einen Betrag zur Entwicklung von Kenntnissen, Erkenntnissen und Einsichten in aktuellen und in fundamentale Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Die Schülerinnen und Schüler gewinnen einen synoptischen Überblick über wesentliche westliche Verfassungen, ihre Einrichtungen und Verfahrensweisen.
Das Lehrstück führt grundlegend in den Politikunterricht ein. Fast 2/3 der Bildungsstandards des Faches, wie die GPJE sie formuliert hat, werden im Lehrstück angesprochen. Kategorial wird der für die politische Bildung zentrale Begriff der Verfassung erschlossen, zugleich grundlegende politische Institutionen in ihrem Wesen und ihren Aufgaben geklärt. Die Schülerinnen und Schüler erfahren dabei, dass solche Verfassungen und ihre Institutionen ihnen und ihren Lebenswünschen entsprechen. Moderne Verfassungen enthalten neben den Institutionen auch die Grund- und Menschenrechte, eine enge Beschäftigung mit dem griechischen politischen Denken ersetzt nicht die Beschäftigung etwa mit dem Grundgesetz, führt aber zu ihm hin.
3.3.5 Eine notwendige Erweiterung?
Demokratie ist kein einmal errichtetes Gebäude, sie ist in einer antagonistischen Gesellschaft (Abendroth 1968) immer schon gefährdet. Sie besteht nicht nur aus ihren verfassungsmäßigen Institutionen, sie bedarf vielmehr der ständigen zivilgesellschaftlichen Intervention. Demokratie muss ein sich ständig selbst erneuernder Prozess sein, der auf die sich wandelnden ökonomischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse reagiert. Politikunterricht zu Verfassung und Demokratie hat deshalb seit jeher das Problem der Glaubwürdigkeit:

Täuschen wir uns zu keiner Stunde hinsichtlich der kritischen Einstellung der jungen Menschen dem Lehrer gegenüber, der vor ihnen die Sache der Politik zu vertreten hat. Unser Kredit als Erzieher ist vor allem unsere menschliche Glaubwürdigkeit, ist jene Vertrauenswürdigkeit, die Miteinander-Denken, Wahrheitssuche und -erfindung ermöglicht. Nichts ist so schnell verloren wie jenes unbedingt erforderliche Maß an Glaubwürdigkeit als politischer Mensch, ohne das aller politischer Unterricht Wissenssammlung, Stoffhäufung und damit letztlich formal und leer bleibt. Der Lehrer des politischen Unterrichts hat kein anderes Pfund, mit dem er wuchern könnte. Vergibt er seine Vertrauenswürdigkeit, indem er den Schülern ein X für ein U vorzumachen versucht, vielleicht besten Willens, eine politisch gesellschaftliche Zukunft herbeizuführen, in der Sittlichkeit allein regert, in er alles zum Besten bestellt ist, so erweist er sich in den Augen der Schüler als ein Unwissender, als ein Schwarmgeist.
Die jungen Menschen mögen auch dann noch so tun, „als ob“; die Chance der politischen Bildung, die mit der Preisgabe des Bodens der harten politischen Wirklichkeit verloren gehen muß, ist - wieder einmal - vertan. … Im politischen Unterricht kann es nur darauf ankommen, realistisch zu denken und Realitäten so zu erfassen, wie sie sind. (Fischer 1965: 34f)
Die Alternative zur schlecht funktionierenden Demokratie heißt nicht Diktatur oder totalitäre Herrschaftsordnung, sondern besser funktionierende Demokratie.
(Fischer 1965: 33)

Im Politikunterricht muss immer über das Verhältnis von Realität und Ideal gesprochen werden. In der Tat ist die Demokratie in den letzten Jahren in den Verdacht geraten, nur (noch) die äußere Form einer schon längst anderen Herrschaft geworden zu sein.
Heute befinden sich, folgt man Colin Crouch (Crouch 2008), die westlichen Demokratien in einer Phase, in der der demokratische Prozess immer weiter entkernt wird. Seit den 1970er Jahren ist die Fähigkeit des Staates, in Wirtschaft und Gesellschaft steuernd einzugreifen, zurückgegangen. Die Parteien verlieren in dramatischer Weise ihre Mitglieder und die Teilnahme an Wahlen sinkt. Zwar bleiben die Formen der politischen Beteiligung erhalten, aber gleichzeitig sinkt die Erwartung, Politik würde „was ändern“; ganze Gruppen der Gesellschaft steigen einfach aus dem politischen System aus. Jedoch muss hinzugefügt werden, dass andere Gruppen ihre Interventionsmöglichkeiten erweitert haben.
Dieses Problem ist jedoch nicht neu. Schon die klassische griechische Diskussion band die Demokratie an bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen und sah in zu großen Ungleichheiten an Macht, Ansehen und Einfluss eine Bedrohung für die Demokratie (vgl. Schmidt: 36). Mit Aristoteles kann Demokratie nicht als einmal gegeben angenommen werden; die gesellschaftlichen Rahmenbedingen ändern sich, die Prozesse und Institutionen der Demokratie müssen diesen Veränderungen angepasst werden und die gesellschaftlichen Veränderungen müssen in einem demokratieverträglichen Rahmen gehalten werden. Ohne eine angemessene Beteiligung der Vielen am politischen System leiden sowohl dessen Legitimation als auch dessen Output. Das muss immer wieder Thema im Politikunterricht sein.
Zur Didaktik dieses Themas hat Wolfgang Hilligen schon 1975 einen Vorschlag gemacht:

Bei dem aristotelischen Begriff „gutes Leben“ (der seitdem die philosophische Reflexion als eine regulative Idee begleitet) geht es nicht um Informationen darüber, was „ist“ oder „sein wird“, sondern um das, was sein soll. …
Die Entscheidung für das, was sein soll, wird in der didaktischen Konzeption des Verfassers in drei Optionen zusammengefaßt:
- für Wahrung der personalen Grundrechte,
- für Überwindung sozialer Ungleichheit,
- für die Möglichkeit von Alternativen.
In den Optionen wird die politische Grundentscheidung für einen (am Grundgesetz orientierten) formalen und materialen Minimalkonsensus in didaktischer Absicht zusammengefaßt.
(Hilligen 1975: 30, 172ff)

Hilligens Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt. Die gesellschaftlichen Bedingungen von Demokratie kommen fachdidaktisch kaum mehr in den Blick.
Sollte die Analyse von Crouch stimmen, ergibt sich für den Politikunterricht eine neue Aufgabe: Haben Fischer und Hilligen noch die Schülerinnen und Schüler für die neue, sich noch entwickelnde Demokratie gewinnen wollen, so muss der Politikunterricht heute für die Demokratie unter der Bedingung von eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten des demokratischen Staates und des Rückganges politischer Beteiligten bei den – wie man früher sagte – „Unterprivilegierten“ werben.
Das macht es notwendig und gleichzeitig schwer, einen Abschnitt für den Unterricht des Lehrstücks zu entwerfen, der die Schülerinnen und Schüler einerseits mit den gegenwärtigen Problemen von Demokratie vertraut macht, andererseits für die Demokratie wirbt. Es gibt ihn noch nicht.

  • Ein aktueller Abschnitt, der an das Lehrstück anschließt, könnte so aussehen:
  • Populäre Demokratiekritik (Beispiel im Schulbuch bei Heither: 230).
  • Die Entwicklung der Demokratie durch die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Elemente. (Materialien dazu in Pohl/Soldner).
  • Die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Initiativen als Korrekturen von Einflüssen großer Interessen. (Crouch 2011: 212ff, Roth 2011)
  • Kritik an direktdemokratischen Verfahren: Begünstigung der Wohlhabenden und Gebildeten. (Walter 2011, Wagner 2011).

3.3.6 Das Lehrstück unterrichten
Der erste Versuch, ein Lehrstück zu unterrichten, kann sich darauf beschränken, Texte und Materialien in der Weise mit den Schülerinnen und Schülern so durchzugehen, wie alle Beteiligte es gewohnt sind. Der Lehrer gewinnt dabei ein Gespür dafür, ob, ausgehend von einer Frage, ein tragender Gedankengang entsteht, der zu weiteren Fragen und neuen Kenntnissen, Erkenntnissen und Einsichten führt.
In der ersten Inszenierung als dramaturgisch gestaltetes Lehrstück wird Herodots Verfassungsdebatte bis zu Punkt geführt, an dem die Schülerinnen und Schüler erste Entwürfe für eine Verfassung erstellt haben. Sie sollen schon verstanden haben, dass für eine stabile und leistungsfähige Verfassung ein irgendwie geregeltes System von Institutionen erforderlich ist. Von dort aus ist ein kühner Sprung über die Zeiten hinweg bis zum politischen System nach dem Grundgesetz durchaus möglich: Die Schülerinnen und Schüler erleben das deutsche Institutionensystem nicht mehr als unbegreifbar unübersichtlich, sondern als begreifbar komplex. Und genau darauf kommt es an.
Diese kurze Inszenierung ermöglicht schon wesentliche Erfahrungen. Der Konflikt, von dem in den Texten die Rede ist, wird zum Konflikt zwischen Schülerinnen und Schülern im Klassenzimmer. Rhetorik und Argumentationskraft werden verlangt. Konfrontationen müssen ausgehalten und Bündnispartner müssen gesucht, Entscheidungen müssen getroffen werden.
Man muss sich entscheiden: Einerseits fördern derartige Handlungen ein vertieftes Verständnis des Problems und seiner Lösungen, andererseits kosten sie auch viel Zeit. Bei der Entscheidung können einer Kollegin oder einem Kollegen, die diese Unterrichtseinheit in ihren Klassen umsetzen wollen, vielleicht einige Fragen helfen:

  • Wie ist das Verhältnis des Lehrenden zu Klasse? Lehrstückunterricht setzt schon eine gewisse Vertrautheit im Umgang miteinander voraus.
  • Wie sind die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse? Lehrstückunterricht benötigt einen großen Unterrichtsraum mit viel Platz und Bewegungsfreiheit; der Unterricht sollte zu einer Zeit stattfinden, an dem die Schülerinnen und Schüler leistungsfähig und einsatzbereit sind.
  • Hat die Klasse Erfahrungen mit Simulationen? Sind Schülerinnen und Schüler in einer Theater-Arbeitsgemeinschaft? Oder hat die Klasse ein besonderes Interesse an Diskussionen und Gesprächen, die auch „in die Tiefe“ gehen können?
  • Können die Schülerinnen und Schüler gut zusammenarbeiten? Haben sie Erfahrungen in Gruppenarbeit und Präsentationen? Oder müssen sie sich erst noch gegenseitig kennen lernen?
  • Sind politische Themen für sie solche, bei denen man eine „Meinung“ hat oder solche, denen tiefer nach zu spüren ist? Haben sie Lust daran, ihre Gedanken zu entwickeln und öffentlich zu zeigen
Eine sehr gründliche Literaturliste für die fachliche und die didaktisch-methodische Vorbereitung des Lehrers zum Kern dieses Lehrstücks könnte so aussehen:
Christian Meiers Buch über Athen (1997: Athen – Ein Neubeginn der Weltgschichte) dient als historische Einführung, Mit den Philosophiegeschichten von Störig (1985) oder Röd (1996) gewinnt man einen politikphilosophischen Überblick. Herodots „Historien“ sollten in einer vollständigen Ausgabe intensiv geblättert werden, an einigen Stellen sollte man sich auch fest lesen. Sie zeigen ein großes Panaroma der damals den Griechen bekannten Welt und machen schon damit deutlich, dass die Verfassungsdebatte nicht ein kleines Gedankenspiel eines unbedeutenden Schreibers ist, sondern aus einem breiten, die Welt umfassendem Blick entstanden ist. Gleich zu Anfang zeigt Herodot in einem Kapitel über Kroisos, den König der Lyder, die Bedeutung der Hybris in der Politik. Herodots Menschenbild wird deutlich, von dort aus eröffnet sich ein Verständnis der Verfassungsdebatte. Die „Politik“ von Aristoteles liest sich schwierig, sie ist eine in späterer Zeit erfolgte Zusammenstellung von Fragmenten. Es bedarf schon einer bestimmten Entsagungsbereitschaft, sich auf das Buch einzulassen. Gleichwohl wäre es zu wenig, nur eine der üblichen Zusammenstellungen zur Staatsphilosophie zu nehmen, denn dann bekommt man keinen hinreichenden Eindruck von der Beweglichkeit des Denkens von Aristoteles. Die Susemihl-Ausgabe (Aristoteles 2003) kommt dem Leser sehr entgegen (Zwischenüberschriften, vorgestellte Inhaltsangaben).
Für den Verfassungsvergleich ist die „Vergleichende Regierungslehre“ von Franz Lehner und Ulrich Widmaier (2002) eine sehr schöne Einführung; das politische System der Schweiz wird von Silvano Moeckli (2007) erklärt, über Großbritannien schreibt Stefan Schieren (2010) und über die USA kann man bei Emil Hübner (2007) viel erfahren.
Als Einführung in das gegenwärtige politische System Deutschlands ist das Buch von Christian Meier „Die parlamentarische Demokratie“, dort insbesondere das erste Kapitel über den „Sinn der Demokratie“, geeignet (Meier 1999). Für umfassende Auskünfte kann man zur „Einführung in das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland“ von Joachim Jens Hesse und Thomas Ellwein greifen (1997/1 und 1997/2, viele Auflagen).
Eine Ausstattung an didaktischer Literatur könnte so aussehen:
Allgemeindidaktik und Lehrkunstdidaktik: Von Wolfgang Klafki (1975 und 1996) sind die Aufsätze über „kategoriale Bildung“ , zur „didaktischen Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung“ und über „Exemplarisches Lehren und Lernen“ zu nennen. Die klassischen Texte von Martin Wagenschein (1999 und 2009) über das „Exemplarische Lehren“ und das „Genetische Lernen“ sind so unentbehrlich wie die die Beiträge von Hans Christoph Berg und Theodor Schulze im Grundbuch der Lehrkunstdidaktik (1995), neu zu finden in Berg 2009. Bei Wildhirt (2008) findet sich eine Kompositionslehre für Lehrstücke.
Politikdidaktik: Bücher von Kurt Gerhard Fischer (1965), insbesondere das Grundlagenwerk „Der politische Unterricht“, und von Wolfgang Hilligen (1975) sind heute leider nur noch antiquarisch erhältlich.

3.4 John Rawls und die „Theorie der Gerechtigkeit“
3.4.1 Zum Gegenstand
John Rawls’ Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ hat wie kein anderes Buch der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts die Diskussion über die Maßstäbe, die in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gelten sollen, angeregt (Kersting: 7). Platon stellte in der „Politeia“ die Frage danach, was die Gesellschaft zusammenhält; die Bezeichnung dafür ist „Gerechtigkeit“. Ihre Funktion ist unentbehrlich: ohne diese „Gerechtigkeit“ zerfällt jedes Gemeinwesen früher oder später an seinen inneren Gegensätzen.
Solche Fragen sind in der Geschichte des politischen Denkens immer wieder diskutiert worden, aber erst Rawls hat nach Kersting die Frage nach der Gerechtigkeit so fundamental wie Platon aufgegriffen und für die modernen Gesellschaften neu beantwortet.
Der Dreischritt der Vertragstheorien gibt das dazu das methodische Muster: Rawls „…verknüpft die Darstellung eines Ausgangszustandes mit der Darstellung einer vertraglichen Einigungsprozedur und der Ergebnisse und ihrer Konsequenzen.“ (Kersting: 27) Er setzt als Urzustand die jetzige moderne kooperative Gesellschaft, die Welt „… der Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil, gleichermaßen von Interessenidentität und Interessenkonflikt geprägt.“ (Kersting: 27) Die Grundsätze, nach denen diese Gesellschaft gestaltet wird, müssen „gerecht“ sein.

Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muß fallengelassen werden oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind.“ (Rawls: 19)

Schülerinnen und Schüler kennen aus den naturwissenschaftlichen Fächern das Argumentieren und Entscheiden mit Algorithmen, die Sozialwissenschaften scheinen ihnen da nicht so eindeutig. Deshalb hat es seinen Reiz, bei einem so umstrittenen Thema wie der Verteilung es Erwirtschafteten, die Schülerinnen und Schüler mit einer sehr entwickelten Argumentation zu konfrontieren, von der aus Schlussfolgerungen bis in die Einzelheiten aktueller Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik möglich sind. Die Schülerinnen und Schüler brauchen Wege und Maßstäbe für ihre „Meinungen“, sollen sie mehr sein als ein „Ich finde, dass…“. Sie brauchen Muster, an denen sie sich orientieren können, wie immer sie sich danach zu ihnen verhalten.

Es ist guter Brauch im Unterricht, Texte möglichst im Original zu zeigen. Als ich meinen Unterricht über Rawls in den 90ern anfing, war er in Deutschlands Schulen noch unbekannt. Also schrieb ich selbst einen Text:

Autorentext zu Rawls: Gerechtigkeit als Fairness

Wie soll politisch (=durch Staat/Gesetzgeber) für Gerechtigkeit gesorgt werden?
Was ist „Gerechtigkeit“?
In modernen demokratischen Staaten haben die Menschen nicht nur verschiedene Vorstellungen davon, wie sie individuell leben wollen, sondern sie unterscheiden sich auch in ihrer „Konzeption des Guten“ (=des privaten und des öffentlichen Guten). Damit taucht die Frage auf, was dann „politisch gerecht“ sein kann. Diese Frage wird von Rawls so geklärt werden, dass die verschiedenen Vertreter divergierender Konzeptionen des Gutem im Lichte ihrer Interessen und Überzeugungen diese vernünftigerweise akzeptieren können. Politische Gerechtigkeit muss „fair“ sein („Gerechtigkeit als Fairness“).
Man muss fragen, welche Grundsätze die Mitglieder einer Gesellschaft selbst für die Gestaltung ihrer gemeinsamen Institutionen wählen würden, wenn sie unter fairen Bedingungen darüber zu entscheiden hätten. (Beachte: Es handelt sich hier nicht um eine tatsächliche Beratung, sondern um einen „Urzustand“, um eine fiktive Situation, um ein Gedankenexperiment!) Hinter dem „Schleier der Unwissenheit“ soll darüber beraten werden, nach welchen obersten Grundsätzen eine Gesellschaft strukturiert werden soll. Die Beratenden wissen noch nicht, welche konkreten Personen sie „später“ in der realen Gesellschaft sein werden. (Beispiele: Es soll darüber gesprochen werden, ob es Arme und Reiche geben soll. Niemand derjenigen, die das fiktiv zu entscheiden haben, weiß zu diesem Zeitpunkt, ob er „später“ arm oder reich sein wird. Oder es soll über die gesellschaftlichen Unterschiede von Mann und Frau gesprochen werden: Die Beteiligten wissen noch nicht, ob sie „später“ das eine oder das andere sein werden.)
In dieser Diskussion streben die Beteiligten vermutlich danach, sich einen Anteil an „Grundgütern“ zu sichern. Grundgüter sind das, was jeder braucht, um seine eigenen Pläne im Leben verfolgen zu können: Grundlegende Freiheiten und Rechte, Eigentum, und die Tatsache, daß verschiedene Positionen verschiedene Befugnisse und Vorrechte haben. Sie teilen sich auf in eine erste Gruppe, die sich auf die Politik, und in eine zweite Gruppe, die sich auf alle anderen Bereiche des Lebens bezieht. Da man im Leben ja nur einen Bruchteil seiner Möglichkeiten nutzt, ist es besser, zu viele als zu wenig davon zu haben. Grundgüter sind sowohl universal – jeder rationale Mensch muss sie wollen – als auch Inhalt des Selbstverständnisses freier und gleicher Bürger. Die Beteiligten würden sich einstimmig auf zwei Prinzipien der Verteilung der Grundgüter einigen:

1. Jede Person hat ein gleiches Recht auf das umfassende System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. [= Gleichheitsprinzip; HL]
2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie a) zum größten zu erwartenden Vorteil (im Vergleich mit einer Situation weniger oder gar keiner Ungleichheit) für die am wenigsten Begünstigten führen [= Differenzprinzip; HL] und b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit zur Verfügung stehen. [= Chancenprinzip; HL]

Diese Grundsätze können gegenüber allen, vor allen und mit für allen gleichen Gründen vertreten werden. Wenn das gilt, dann müssen diese Gründe auch jetzt gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zugrunde gelegt werden können.

Heute gibt es gute Textzusammenstellungen in Schulbüchern (etwa Sänger: 218).
3.4.2 der Kern des Lehrstücks mit Variationen
Der Lehrstück-Kern
Wenn Lehrstücke wesentliche kulturelle Ereignisse im Unterricht nachinszenieren, dann ist die wichtigste Frage, was denn das „Ereignis“ ist, das im Klassenzimmer zur Aufführung gelangen soll. Ist es die „Theorie der Gerechtigkeit“ selbst, deren Inhalt im Unterricht zu reinszenieren ist? Dann wäre das Lehrstück nur eine andere Form der Einübung der Einübung des Textes. Die Frage muss also tiefer ansetzen: Es geht nicht darum, wie diese „Theorie der Gerechtigkeit“ ihre Aufgabe löst, sondern darum, warum sie gerade so gebaut ist, wie sie gebaut ist. Bevor sie nachvollzogen werden kann, muss sie erst einmal nach-erfunden, nach-entwickelt werden.
Dazu ist für die Schülerinnen und Schüler eine Situation erforderlich, die nach einer Deutung mithilfe der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls verlangt, aber so, dass die Schülerinnen und Schüler sie bei zurückhaltender Unterstützung durch den Lehrer selbst finden. Die Situation verlangt nach der Frage, ob das Schicksal bestimmter sozial benachteiligter Menschen angesichts des Wohlstandes anderer Menschen gerechtfertigt werden kann. Oder umgekehrt: Kann der oft ganz zufällige Wohlstand eines Menschen - er ist halt in eine reiche Familie hineingeboren worden - angesichts konkreter Armut gerechtfertigt werden?
Die Schülerinnen und Schüler merken bald, dass es in solchen Situationen nicht damit getan ist, jeweils nur konkrete Interessen zu formulieren und zu rechtfertigen. Denn damit wäre der Anspruch auf einen Ausgleich weder begründet noch widerlegt. Der Zufall der Geburt ergibt erst recht keine Rechtfertigung. Wenn immer wieder alle Rechtfertigungen an den verschiedenen konkreten Gegebenheiten scheitern, dann entsteht irgendwann im Gespräch der Punkt, an dem nach Rechtfertigungsargumentationen verlangt wird, die von der konkreten Situation absehen. Dann kann von einem Schüler oder auch vom Lehrer die Frage gewendet werden: Wie können Ungleichheiten gerechtfertigt werden, wenn wir von uns selbst, von unserer konkreten sozialen Situation, von unseren Interessen und Vorlieben absehen? Antwort: Indem wir bei allen Menschen von deren konkreter Situation absehen! Aber dann sind wir doch blind? Die Regeln, die gelten sollen, müssen zu einer konkreten Gesellschaft auf einem gegenwärtigen Entwicklungsstand passen. Damit ist die Lösung gefunden: Die Regeln müssen in einem Zustand gefunden werden, in dem wir nicht wissen, wer wir konkret sind, aber so ungefähr wissen, wie die Welt aussieht und welches Schicksal wir dort erfahren können. Wir wissen, dass es ein „Oben“ und ein „Unten“ in der Gesellschaft gibt und dass es sowohl sein kann, dass wir in den oberen Etagen der Gesellschaft leben, aber auch, dass wir zu den Ärmsten der Armen zählen, die in dieser Gesellschaft anzutreffen sind. Und nun müssen wir Regeln finden, mit denen wir uns zumuten können, zu den Benachteiligten zu gehören, auch wenn wir natürlich darauf hoffen, zu den Bevorzugten zu gehören.
Es ist für die Schülerinnen und Schüler nicht leicht, Rawls’ Urgesellschaft zu denken. Das ist ein doch recht abstraktes Gedankenexperiment. Ich weiß nicht mehr, ob es von mir stammte oder aus einer Lerngruppe: Denken wir uns eine „Konferenz vor der Geburt“: Die noch nicht geborenen Babys sitzen zusammen, um die Regeln auszuhandeln, unter denen sie nach ihrer Geburt leben wollen. Sie wissen von der Gesellschaft, in der sie leben werden, genug, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Positionen zu verstehen. Aber sie wissen nicht, welche soziale Position ihre eigenen Eltern im Verhältnis zu anderen Eltern einnehmen: Ob sie an der Spitze von Staat und Gesellschaft stehen, in der sozialen Mitte oder unter Not leiden. Alle diese „Babys vor der Geburt“ werden sich, wenn sie ihre Interessen genau durchdenken, dafür entscheiden, dass sie nach der Geburt einigermaßen gut und sicher leben können und Chancen haben, sozial aufzusteigen. Sie werden deshalb Regeln der Verteilung der grundlegenden Güter (Eigentum, Freiheiten) vereinbaren, die ihnen einen zwar niedrigen, aber ausreichenden Standard in jedem Fall garantieren. Das Bildungssystem soll den sozialen Aufstieg ermöglichen können. Selbst wenn es nicht gelingt, dass die Schülerinnen und Schüler auch Regeln für ein Maß sozialer Unterschiede aufstellen können, ist der Durchbruch zum Verständnis von Rawls’ „Theorie der Ungleichheit“ gelungen.
Danach werden Auszüge aus dem Werk von Rawls gelesen, sie erschließen sich sehr schnell. Die Anwendung des mit und von Rawls Gelernten auf jene konkrete Situation, die den Kurs nach Gerechtigkeitskriterien fragen ließ, wird nicht einfach sein. In dem einen Kurs wird man es dabei belassen festzustellen, dass hier politische Aufgaben vorliegen, in einem anderen Kurs geht es ganz fachlich weiter.
Schülerinnen und Schüler haben oft Angst vor dem Egoismus der anderen und Angst um ihre eigene Position. An dieser Stelle erleben sie ein kleines Wunder: An dieser Stelle fallen die eigenen und die fremden Interessen gerade zusammen!
Ausgangspunkt: Eine unerfreuliche soziale Situation
In der Politik ist die Verteilungsgerechtigkeit zentral, schließlich realisiert sich Politik in der Demokratie über den Haushalt. Wem wird genommen? Wem wird gegeben? Und wie viel? Das ist ja strittig und wird es auch bleiben. Man braucht also Kriterien, diesen Streit zu beurteilen und zu entscheiden.
Unerfreuliche soziale Situationen spielen im Politikunterricht eine große Rolle. Sie sollen regelmäßig die Frage aufwerfen, ob diese Situation, so wie sie aussieht, gerecht gestaltet ist, oder ob sie geändert werden muss. Für die Schülerinnen und Schüler muss der Weg, der in einem solchem sokratischen Gespräch (→ 10) genommen wird, durchsichtig bleiben. Sie vertiefen das Problem, kommen zu Resultaten, die sie wieder verwerfen. In einem neuen Anlauf finden sie dann weitere Möglichkeiten, bis sie zu einem zufriedenstellenden Resultat kommen. In solchen Gesprächen lernen die Lehrerinnen und Lehrer Sichtweisen und Argumentationsfiguren der Schülerinnen und Schüler kennen, die für spätere Neuinszenierungen des Lehrstücks von Bedeutung sein werden.

Rawls’ Gerechtigkeitstheorie war Teil eines kleinen unterrichtlichen Projekts „Hamburg ganz unten“ in einem Leistungskurs Gemeinschaftskunde.
Die Schülerinnen und Schüler hatten sich in kleinen Gruppen zwei Tage z.B. das „Pique As“, eine Einrichtung für Obdachlose, und anderen ähnlichen Einrichtungen, umgeschaut. Sie hatten dort mit Obdachlosen und mit dem Personal gesprochen. Was die Schülerinnen und Schüler dort gesehen haben, machte es zwar leichter, die Frage nach der Gerechtigkeit aufzuwerfen, aber für die Schülerinnen und Schüler wurde es schwerer, sie zu beantworten, denn ihre neuen Erfahrungen standen gegen jene leichten Lösungen, die ihnen sonst vielleicht eingefallen wären. Mir ging es auch darum, sie auf ein Gespräch über Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit vorzubereiten.
Die Lehr-Lernaufgabe besteht darin, die von Rawls entwickelte Aufgabe der Verhandlungen unter dem Schleier der Unwissenheit zu finden und in ihr die Regeln zu entwickeln, um sie dann lesend im Original kennenzulernen, nachzuvollziehen und gegebenenfalls zu kritisieren.
Nach jedem Schritt im Gespräch mit der Lerngruppe fragte ich: Ist das ein Zwischenergebnis, mit dem wir alle mindestens vorläufig übereinstimmen können, weil wir es selbst gefunden und nach vielen Seiten abgesichert haben?
Ich ließ die einzelnen Schritte wiederholt prüfen und fragte jedes Mal nach: Jeder der Schüler stimmte zu, dass wir immer beim Prinzip der rationalen Egoismus geblieben sind und nicht zu allgemeinen Prinzipien von Menschenliebe oder Ähnlichem, deren Ableitung nicht jedem einleuchtet, gegriffen hatten und dennoch etwas gefunden hatten, das man vielleicht als Gerechtigkeit bezeichnen könnte. Danach wurde Rawls in kleineren Textauszügen gelesen und schnell verstanden. Hier der „Rote Faden“ dieses Gesprächs:

Was ist Gerechtigkeit?
Wie soll man das beurteilen? Dort in den Obdachlosen-Asylen gibt es Menschen, denen es sehr schlecht geht, und uns geht es gut. Ist das gerecht? Woher den Maßstab nehmen, er liegt ja nicht wie ein Zentimetermaß zur schnellen Benutzung herum. Gerechtigkeitsempfinden sind subjektiv. Jeder beurteilt das anders. Aber gibt es nicht doch so etwas wie objektive Gerechtigkeit? Am Beispiel der Politik: Jeder ist dafür, dass jeder seine Meinung sagen darf, möchte er doch selbst seine Meinung sagen dürfen. Einschränkungen seien zugestanden: Beleidigungen sollen nicht sein. Oder am Beispiel des Marktes: Jeder ist dafür, dass im Prinzip jeder mit seinem Geld kaufen darf, was er möchte, möchte man es doch selbst auch tun. Einschränkungen seien zugestanden: Es gibt Dinge, von denen man möchte, dass niemand sie einfach so kaufen kann, Waffen beispielsweise. Also gibt es doch Überschneidungen zwischen den Vorstellungen und den Interessen der verschiedenen Menschen: Jeder Einzelne möchte aus eigenem Interesse, dass jeder Andere Bestimmtes darf und Anderes nicht, und zwar aus eigenem Interesse. Aber dieser Gedanke führt noch nicht sehr weit, kann hier doch jeder nach Belieben seine Zugeständnisse an andere formulieren; das Resultat dieser Überlegungen scheint noch löcherig zu sein. Woher kommt es, dass der eine mehr Möglichkeiten hat als der andere?
Welche Ursachen sind dafür verantwortlich, dass der eine gesellschaftlich besser positioniert ist als ein anderer? Man könnte sich nun viele gesellschaftliche Ursachen dafür denken, dass dieser eine besser oder schlechter lebt als jener andere. Aber der Gedanke muss tiefer ansetzen, bei den Bedingungen des menschlichen Lebens in dieser Gesellschaft überhaupt. Es kamen drei Ursachen zur Sprache, sie könnten sicher auch anders sortiert und anders formuliert sein.
1. Die Menschen sind nicht einfach nur rationale Planer und Entscheider ihres Lebens. Sicher, diese Rationalität gibt es auch, aber bei vielen Dingen, die man tut, prüft man vorher eben nicht rational, was man tut, man tut es einfach, unbesehen der Folgen. Jeder Abhängige von einer Droge – jeder Raucher, jeder, der zu viel Alkohol trinkt, jeder, der harte Drogen nimmt – ist ein Beleg dafür. Wir wären aber auch bei den alltäglichen Handlungen überfordert, würden wir immer erst nachdenken, wir geben vielmehr Gewohnheiten und Neigungen nach, wir rutschen in vielen Situationen des Alltags irgendwo hin, wo wir gar nicht hin wollten. Es gibt ein prekäres Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Spontaneität: Die Selbstverantwortlichkeit einerseits führt bei zwar überblickten, aber doch unerwünschten Folgen dazu, dass man sich selbst verantwortlich machen muss, und jenes spontane „Rutschen“ andererseits, für das man zwar auch zahlen muss, das aber nicht recht vorwerfbar ist. Dieses „Rutschen“ kann auch ein „Rutschen“ bergab sein.
2. Eine große Rolle spielt im Leben der Zufall. Man begegnet bestimmten Menschen, die bestimmte Möglichkeiten eröffnen oder verbauen; man „begegnet“ ihnen oft sogar dann, wenn man ihnen nicht „begegnet“. Ein Unternehmer streicht aus einsehbaren betriebsbedingten Gründen bei der Pensionierung eines Mitarbeiters dessen Arbeitsplatz. Derjenige, der diesen Arbeitsplatz hätte einnehmen können, erfährt davon noch nicht einmal und ist trotzdem betroffen, irgendwie. Dieser Unternehmer hat unter dem anonymen Zwang des Marktes gehandelt, also nicht freiwillig-schuldhaft-böse, man kann ihm keinen Vorwurf machen. Nichtsdestotrotz: Ein Mensch bekommt diesen Arbeitsplatz nicht, er kann nichts dafür.
3. Für den Startpunkt, den der Einzelne im Leben bekommt, gilt auch der Zufall, diesmal in Gestalt einer „Lotterie der Natur“: Geboren werden ist reine Passivität, niemand erwirbt sich allein dadurch ein Verdienst, aus dem er Ansprüche ableiten könnte. Aber mit diesem Startpunkt ist entschieden, welche Möglichkeiten sich dem Einzelnen im Leben bieten oder auch nicht bieten.

Wie kommen nun Gerechtigkeit und Gleichheit zusammen?
Gerechtigkeit hat mit Gleichheit zu tun, wie kommt man nun auf ein Verständnis gleicher Rechte und dann auf eine diesem Verständnis halbwegs entsprechende Realität? Man kann die Menschen nicht zu Monstern der Rationalität machen, man kann den Zufall im Leben nicht ausschalten. Bei diesen beiden Ursachen scheint keine Veränderung möglich? Kann man die „Lotterie der Natur“ wegbekommen? Es wäre denkbar, die Erziehung der Kinder so weit zu vereinheitlichen, dass der Einfluss der Eltern gegen Null geht: Alle Erziehung wird vom Staat durchgeführt. Aber jeder Versuch, solch ein System einzuführen, würde politisch scheitern, die Menschen lassen sich ihre Kinder nicht wegnehmen. Es geht also in der Realität nicht. Der Gedankengang stockt. Hier scheint also eine Sackgasse vorzuliegen. Mit der Betrachtung realer Möglichkeiten kommt man nicht weiter. Das Gespräch verstummt. Hier sind nun nach einiger Zeit Impulse nötig. Aber wie sieht es damit aus, die „Lotterie der Natur“ in Gedanken zu beseitigen? Ergibt dieses Gedankenexperiment Hinweise zur Frage der Gerechtigkeit? Vermutlich weil wir nun den Boden der Fiktion betreten, kommt ein Schüler darauf, den indischen Gedanken der Wiedergeburt ins Spiel zu bringen. Jeder lebt so, wie er es sich im vorherigen Leben verdient hat. Dann kann zwar der, dem es gut geht, sagen, ich habe es mir verdient, aber er muß auch sehen, dass, wenn er zu stolz und herablassend ist, sein Verdienst möglicherweise wieder schmilzt. Es kann geschehen, daß sich im nächsten Leben die Verhältnisse umkehren. Diesem Wandel sind alle unterworfen. In einem ganz wichtigen Aspekt sind alle gleich. (Es ging hier nicht wirklich um indische Anschauungen, deshalb reicht diese Konstruktion.) Ein Aspekt von Gleichheit ist also erreicht.

Eine Konferenz vor der Geburt?
Es kam vor, dass die Idee einer Konferenz, die von den realen Umständen absieht, eben unter dem Schleier der Unwissenheit, aus der Lerngruppe selbst kam. Wenn das nicht gelingen will, sollte der Lehrer im dem Moment den Impuls setzen, in dem die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereitet sind. Impuls: Man stelle sich vor, die Menschen, die demnächst geboren werden sollen, könnten vorab einen Blick in die Welt werfen; sie könnten ihre Familien schon mal anschauen und deren Stellung in der Welt. Was würden viele dieser zukünftigen Babys sagen? Etliche wären entsetzt, etliche wären zufrieden. Man stelle sich weiter vor, diese zukünftigen Babys könnten sich untereinander verständigen, was würden sie sich sagen? Auf welche Grundsätze ihres zukünftigen Lebens würden sie sich einigen? Vermutlich auf gar keine, denn die einen würden von der Aussicht auf ein schönes Leben begeistert sein und die anderen würden in ihren Tränen ersticken. Und an der Stelle findet bestimmt ein Schüler heraus: Diese zukünftigen Babys dürfen nicht wissen, wo sie in ihrem späteren Leben sein werden. Dann sind sie erst einmal alle gleich. Und dann kann man auch über die Unterschiede reden. Ja, das leuchtet ein. Wie reden denn nun diese zukünftigen Babys in einer „Konferenz vor der Geburt“ darüber, wie ihr Leben, ihr ja notwendige gemeinsames Leben, nach der Geburt aussehen soll? Sie wissen ja grob, wie die Welt aussieht, sie wissen, dass es oben und unten gibt, aber sie wissen nicht, wohin sie gehören. Nehmen sie das Gemeinwohl ins Auge, oder ihre Interessen? Jeder muss es ja für möglich halten, dass er selbst im realen Leben am untersten Ende der Skala der gesellschaftlichen Möglichkeiten landet. Deshalb muss jeder dafür sein, diese unterste Position so auszugestalten, dass er sie für sich akzeptieren kann. Da werden alle dieser Babys/Menschen vor der Geburt ähnliche Gedanken haben. Es wird um Freiheit und eine grundlegende materielle Versorgung gehen.
Aber kann das nicht dazu führen, dass alle untereinander in jeder Beziehung vollständig gleich sein wollen? Nein, denn es hat historisch keine halbwegs entwickelte Gesellschaft von in jeder Hinsicht Gleichen gegeben; und wo man solch eine Gesellschaft versuchte, ist man gescheitert. Es war eine Gleichheit des Mangels und der Unfreiheit. Ein Leben, in dem alle in allen Aspekten des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens „gleich“ sind, ist vermutlich ein schlechtes Leben auf einer sehr niedrigen Stufe. Weil die Menschen sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen werden, werden sie sich sowieso unterschiedlich entwickeln. So werden Ungleichheiten von alleine neu entstehen.
Es scheint so, als ob wir wieder am Anfang der Frage „Wie kommen Gerechtigkeit und Gleichheit zusammen?“ zurückgekehrt sind.
  • Ja, denn es ist dieselbe Frage nach der gerechten Bestimmung von Ungleichheit,
  • Nein, denn es ist nun schon klar, dass die Basis aller Überlegungen die Gleichheit in wesentlichen Fragen sein muss.
Wie weiter? Wie groß kann/darf/muss die Ungleichheit sein? Sie muss so groß sein, dass sie die gesamte Gesellschaft nach „vorne“ führt, sie darf aber nicht so groß sein, dass einzelne Menschen oder eine ganze Gruppe schlechter leben, als wenn alle Menschen in jeder Hinsicht gleich sind. Nur dann ist es für den, der „unten“ steht, vernünftig, damit einverstanden zu sein, dass er „unten“ steht.
Aber wie klärt man, ob ein bestimmtes Maß an Ungleichheit dieser Ungleichheit entspricht? Das kann nur in einer politischen Interpretation geschehen. Aber eines ist klar: Ein vom Schicksal Begünstigter kann nur dann mit einem bestimmten Maß an Ungleichheit einverstanden sein, wenn er sich – wenigstens im Prinzip – einem Benachteiligten vis-à-vis gegenüber damit einverstanden erklären könnte, dessen Position zu übernehmen. Er hat in der „Konferenz vor der Geburt“ das Haus mitgebaut, also muss er auch damit einverstanden sein, darin zu wohnen! Und sei es im Keller. Und: Jeder, der am politischen Prozess teilnimmt, um seine Auffassungen und Interessen zu vertreten, hat nun einen Maßstab, an dem er messen kann, was er legitimerweise fordern darf, und wo seine Forderungen beginnen, ungerecht zu werden. Man kann nun mit den hier, d.h. bei Rawls gewonnenen Gedanken, beginnen, Politik zu bewerten.

3.4.3 Exemplarisch - genetisch - dramaturgisch
Exemplarisch Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eine der ältesten Fragen der Menschheit. Platon entwarf in der Politeia sein Konzept eines gerechten Menschen in einer gerechten Gesellschaft als Antwort auf die Krisen Athens. Soziale Gerechtigkeit, modern gesprochen, ist für ihn das, was die Polis zusammenhält und sie vor Umsturz und Untergang bewahrt. Deshalb kann für ihn die Gerechtigkeit nicht nur Angelegenheit des Einzelnen sein. Vielmehr geht es um das Verhältnis der vielen Einzelnen zu sich und untereinander. Hayeks Behauptung, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit sei sinnlos (Hayek: 30ff), verfehlt von Platon her gesehen nur die Verweigerung gegenüber einem wesentlichen Problem.
Über Gerechtigkeit gibt es viele Theorien, Ansichten und Auffassungen. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist für den Unterricht besonders gut geeignet, weil sie den Schülerinnen und Schülern eine Methodik des Nachdenkens ermöglicht, die in aktuellen Zusammenhängen immer wieder anwendbar ist: Von der goldenen Regel „Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“, positiv ausgedrückt „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ geht im Unterricht der Weg zu der Einsicht, dass die Regeln des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben so formuliert sein müssen, dass sie jedem mit dessen Zustimmung auch dann noch zugemutet werden können, wenn er in einer besonders benachteiligten Lage ist. Von einer Individualethik der Gerechtigkeit muss ein Weg zu einer Sozialethik der Gerechtigkeit gefunden werden. In jedem konkreten Fall heißt das: Wenn eine Sozialgesetzgebung den Schwächeren bestimmte Maßnahmen zumutet, die als belastend angesehen werden, dann kann jeder andere Bürger nur zustimmen, wenn sie für jeden Menschen in dieser Situation zumutbar sind. Ein Politiker, der nicht bereit ist, mindestens einige Zeit selbst von den HartzIV-Sätzen zu leben, hat nicht das Recht, sie zu beschließen.
Damit gibt Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit fast einen Universalschlüssel zur Beurteilung der verschiedensten Institutionen und Normen.

Genetisch Thomas Pogge berichtet in seiner Einführung in Rawls’ Denken von biographisch wichtigen politischen Ereignissen, die am Ursprung seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ standen:

„Politisch standen die späten 60er Jahre ganz im Zeichen des Vietnamkrieges, mit dem auch Rawls sich ausführlich beschäftigte. Er hielt diesen Krieg von Anfang an für moralisch unzulässig, und hat diese Einschätzung auch öffentlich vertreten. …
Philosophisch war sein Interesse an den dramatischen politischen Ereignissen vorwiegend innenpolitisch ausgerichtet. Er fragte sich, wie eine wesentlich demokratische Gesellschaft einen so unrechten Krieg mit solchem Einsatz betreiben kann, und wie in einer solchen Gesellschaft die Bevölkerung gegen einen solchen Krieg zu mobilisieren sei. Hinsichtlich der ersten Frage sieht er ein Hauptproblem bei der Finanzierung öffent- licher politischer Auseinandersetzungen in den USA. Firmen, hier insbesondere die Rüs- tungsindustrie, und reiche Privatpersonen haben durch Spenden an politische Parteien und Organisationen viel zu viel politischen Einfluß. Sein in diesen Jahren geschriebenes Hauptwerk weist Spuren dieser Gedanken auf. Im § 36 identifiziert er als einen ‚der Hauptfehler der konstitutionellen Regierungsform, daß sie den fairen Wert der politischen Freiheit nicht sicherte … Die Gesetze duldeten im allgemeinen Ungleichheiten der Vermögensverteilung, die weit über das hinausgingen, was mit der politischen Gleichheit verträglich ist‘ (TG 256 (TG = Theorie der Gerechtigkeit; HL)). Und er fordert, daß gleich begabte und motivierte, unabhängig von ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, ungefähr die gleiche Aussicht auf politische Ämter haben sollten (TG 255). Hinsichtlich der zweiten Frage hält er es für wichtig, eine Kultur aufzubauen, in der ziviler Ungehorsam und Weigerung aus Gewissensgründen als Appelle einer Minderheit an das Gewissen der Mehrheit verstan- den und geachtet werden (TG §§ 56-59). Nur im Kontext dieser Diskussion macht Rawls einige ganz kurze Randbemerkungen zur zwischenstaatlichen Moral (TG 416 f.), die erst in seinem neuesten Aufsatz „The Law of Peoples“ leicht korrigiert und ganz erheblich vertieft und ergänzt worden sind.
Es war die zweite Frage, mit der Rawls unmittelbar konfrontiert wurde. Es bestand allgemeine Wehrpflicht für Männer bis zu 26 Jahren, der jedoch viele nicht nachkommen wollten. Das Verteidigungsministerium hatte angeordnet, Männer nicht einzuziehen, solange sie Studenten ‚in good standing‘ waren… Dies brachte für Professoren die Belastung, über das Schicksal mancher Studenten entscheiden zu müssen: Eine schlechte Zensur konnte jemanden zum Militär bringen. Rawls hielt die Anordnung außerdem für ungerecht. Warum sollten es Studenten besser haben als andere, zumal reiche Eltern natürlich viel eher in der Lage waren, ihren Söhnen irgendeinen Studienplatz zu besorgen? Wenn schon junge Männer zur Teilnahme an diesem unmoralischen Krieg gezwungen werden sollten, dann mußte es die Söhne von Industriellen und Politikern genauso treffen wie die von einfachen Arbeitern. Wenn man nicht alle tauglichen jungen Männer brauchte, dann sollte man die nötige Anzahl durch eine Lotterie selegieren.“
(Pogge: 27f)

Diese Erlebnisse sind didaktisch-methodisch natürlich reizvoll. Sie verlangen geradezu nach einer unterrichtlichen Reinszenierung. Die erste Erfahrung - der unterschiedliche Einfluss auf die Politik je nach wirtschaftlicher Macht - ist für Schülerinnen und Schüler leicht nachvollziehbar, aktuelle Fälle dürften dafür zu jedem Zeitpunkt genügend greifbar sein. Die Erfahrung - als Professor über Leben und Tod von Studenten entscheiden zu sollen, während Studenten aus wohlhabenden Familien sich ihre Hochschule, ihre Professoren und damit auch ihre Noten aussuchen können, von Nicht-Studenten, der großen Mehrheit der Gleichaltrigen gar nicht erst zu reden - kann Vorlage für ein Rollenspiel sein.
Wenn im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben die Begünstigten noch weiter bevorzugt werden, wenn die Benachteiligten immer die Benachteiligten bleiben, dann kann die Welt nicht „versöhnt“ werden. Pogge berichtet:

Rawls war zeit seines Lebens interessiert an der Frage, ob und inwieweit das menschliche Leben „redeemable“ ist. Das Wort „to redeem“ hat einen schillernden Sinn, der etwa vom theologischen ‚erlösen‘ bis zum finanziellen ‚einlösen‘ reichen kann. …
Kann man sich eine Gesellschaftsordnung ausmalen, unter der menschliches Zusammenleben lebenswert wäre? … Wenn diese Möglichkeit besteht, dann, und nur dann, kann man die Welt insgesamt als gut bezeichnen. Rawls hat in seinen Arbeiten zur politischen Gerechtigkeit eine solche realistische Utopie entwerfen wollen: Das Modell einer Gesellschaft, die in unserer Welt tatsächlich funktionieren könnte und dadurch wenigstens teilweise - es bleibt immer noch die Frage nach dem lebenswerten Einzelleben - zeigt, daß die Welt gut ist. …
Damit ist, ganz unabhängig vom Erfolg unseres Engagements, die Gefahr von Resignation und Zynismus gebannt. Durch den Entwurf einer einigermaßen realistischen Utopie kann die politische Philosophie nicht nur den Weg in eine gerechtere Zukunft weisen, sondern auch heute schon eine Inspiration bedeuten, die den Wert unseres Lebens erhöht.“ (Pogge: 34f)

Wer mit Schülerinnen und Schülern im Politik- oder Ethik-Unterricht über dieses Thema gesprochen hat, weiß, dass es sie existenziell berührt. Es kann sehr schnell sehr „heiß“ werden, denn sie spüren, dass es um sie selbst geht, um ihre Lebensentwürfe, um ihre Angst und um ihre Hoffnungen. Die einen wollen ein Leben, dass sie es als sinnvoll begreifen können und sind auch bereit, dafür sich und die Welt zu ändern, andere möchten sich cool und realistisch auf die Welt einstellen, wie sie nun mal ist.
Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist, kommt sie in den Unterricht, mehrfach genetisch:

  1. Sie selbst enthält eine Theorie, in der nach Art der klassischen Vertragstheorien (Hobbes, Locke) aus einem Zustand, der auf ein Problem verweist, durch die Aushandlung und Abschluss eines Vertrags ein Zustand werden soll, in dem das Problem im Wesentlichen gelöst ist. Wie macht man das? Diese Theorie stellt einen Gedankengang vor, der von seinem Beginn bis zu seinem Resultat nachvollzogen werden kann.
  2. Diese Theorie selbst hat Ursprünge im Leben nicht nur von John Rawls: Sie verweist auf Erfahrungen von Ungerechtigkeit und ein (vielleicht religiöses) Bedürfnis nach Sinn, nach Heil. Wenn Gerechtigkeit möglich ist, ist die Welt in der Tat eine andere, als wenn wir sie als für immer und unheilbar ungerecht hinnehmen müssen: Wir können dann einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten, wir können nicht nur uns selbst, wir können auch die Institutionen und die Regeln ändern. Dann sind wir zu einem anderen, menschlicheren Leben in der Gesellschaft befreit und können mit Aussicht auf Erfolg das Leben auf dieser Erde verbessern.
  3. Damit gibt diese Theorie den Schülerinnen und Schülern eine Entscheidungshilfe für Grundfragen ihrer moralischen Orientierung.

Dramaturgisch
Das Spannende ist nicht die Genese der Resultate aus den Verhandlungen hinter dem Schleier der Unwissenheit, sondern die Genese dieser Theorie selbst. Das Lehrstück muss deshalb so konzipiert werden, dass es die Schülerinnen und Schüler in die Notwendigkeit versetzt, diese Theorie selbst zu entwerfen. Diese Theorie dann in einer Simulation zu vollziehen, ist der einfachere Teil.
Die Schülerinnen und Schüler müssen dazu in eine Situation versetzt werden, in der offensichtliche Missstände nach einer Erklärung und Änderung verlangen. Diese Änderung verlangt dann nach Maßstäben, die die Schülerinnen und Schüler entwickeln müssen. Sie merken, dass sie diese Maßstäbe nicht der Situation selbst entnehmen können, sondern sie an einem Ort entwickeln müssen, der durch die Missstände gerade noch nicht bestimmt ist. Nur dort können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Gesprächs jene Sachlichkeit aufbringen, die sie gemeinsame Maßstäbe finden lässt.
Der Kern des Lehrstücks besteht nicht in der Inszenierung der Verhandlungen unter dem Schleier der Unwissenheit, sondern in der Suche nach diesen Verhandlungen. Erst wenn sie gefunden worden sind, ist ihre Notwendigkeit eingesehen. Und erst wenn die Schülerinnen und Schüler die Notwendigkeit der Verhandlungen eingesehen haben, werden sie die Resultate der Verhandlungen als für ihr Denken und Leben bedeutsam ansehen können.
Weil Lehrstücke im Politikunterricht aber zur Aufklärung über die laufenden Ereignisse beitragen sollen, ist eine aktuelle Rahmung erforderlich.
3.2.4 Der Lehrstück-Kern im Politikunterricht
Der Politikunterricht soll den mündigen, selbstständig urteilenden Staatsbürger im Blick haben. Deshalb sollen die Schülerinnen und Schüler entsprechend dem Beutelsbacher Konsens nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt werden (Überwältigungsverbot); was in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft kontrovers ist, ist ihnen als umstritten zu zeigen; die Schülerinnen und Schüler sollen in die Lage versetzt werden, sich ihren eigenen Interessen bewusst zu werden, um ihre eigenen Interessen vertreten zu können. Deshalb ist es sinnvoll, dieses Lehrstück im Politikunterricht in einen größeren Zusammenhang einzubetten. Das kann eine längere Unterrichtseinheit sein, in der es aus vielen Perspektiven um Sozialstruktur, Sozialpolitik und/oder soziale Sicherheit geht. Oder es geht um Kontroversen zur Verteilungspolitik im globalen ökonomischen Wettbewerb. Dennoch wird man eine Position vermissen, die als gleich gewichtig angesehen wird. Unter den gegenwärtigen Theoretikern des Neoliberalismus können Lehrerinnen und Lehrer fündig werden.

Tabelle 13: Unterricht über Sozialstruktur und/oder volkswirtschaftliche Verteilung in einer globalen Ökonomie
Unterricht über Sozialstruktur und/oder volkswirtschaftliche Verteilung in einer globalen Ökonomie
1Aktueller Fall, aktuelle Kontroversen, aktuelle Erlebnisse
2Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit
3Kontrahent
4Verhältnis/Vergleich Rawls - Kontrahent
5Aktueller Fall, aktuelle Kontroversen, aktuelle Erlebnisse und die Schwierigkeiten einer Anwendung

Abb. 9: Thematische Landkarte zu einem Rawls-Lehrstück



3.5 Adolph Freiherr Knigge und „Über den Umgang mit Menschen“
Zuerst eine Darlegung von Gegenstand und Thema aus einem Schülertext:

Knigges allgemeine Absicht:
Mit seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ möchte Knigge denjenigen, die gute Eigenschaften, einen guten Willen und den Ehrgeiz, voranzukommen besitzen, Anleitungen bzw. Ratschläge geben, wie man sich am besten in die Gesellschaft einfügt, ohne übersehen oder verachtet zu werden.
Im ersten Teil seiner Einleitung macht er deutlich, dass es viele Menschen gibt, die Talente besitzen, diese jedoch nicht richtig einsetzen, bzw. sich nicht richtig in die Gesellschaft einfügen können oder von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. An diese Menschen richtet sich Knigge, nicht an solche, die ihre guten Eigenschaften absichtlich verbergen, da dies seiner Meinung nach natürlich ist.
Er sagt, dass jeder Mensch, um in der Gesellschaft zurechtzukommen, die Kunst des Umgangs mit Menschen beherrschen müssen und dass man diese, wenn man nicht mir ihr geboren ist, lernen kann. Sein Buch soll eine Hilfe zu diesem Lernprozess sein, indem er eigene Erfahrungen weitergibt. Er möchte dem Leser kein vollständiges System präsentieren, sondern Grundlagen, die auch zum Selberdenken anregen sollen.

Knigge schreibt in der Einleitung:
Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.
Wir sehen die feinsten theoretischen Menschenkenner das Opfer des gröbsten Betrugs werden.
Wir sehen die erfahrensten, geschicktesten Männer bei alltäglichen Vorfällen unzweckmäßige Mittel wählen, sehen, daß es ihnen mißlingt, auf andre zu wirken, daß sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft von fremden Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne der Schwächeren abhängen, daß sie von schiefen Köpfen, die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich müssen regieren und mißhandeln lassen, daß hingegen Schwächlinge und Unmündige an Geist Dinge durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen darf.
Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein verkannt.
Wir sehen die witzigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder lauter gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer Mensch seine dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen und aufzustutzen versteht, daß er Aufmerksamkeit erregt und selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.
Wir sehen, daß die glänzendsten Schönheiten nicht allenthalben gefallen, indes Personen, mit weniger äußern Annehmlichkeiten ausgerüstet, allgemein interessieren. –
Alle diese Bemerkungen scheinen uns zu sagen, daß die gelehrtesten Männer, wenn nicht zuweilen die untüchtigsten zu allen Weltgeschäften, doch wenigstens unglücklich genug sind, durch den Mangel einer gewissen Gewandtheit zurückgesetzt zu bleiben, und daß die Geistreichsten, von der Natur mit allen Innern und äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.
(Knigge [1788] 1991: 11, http://gutenberg.spiegel.de/buch/3524/3)

„Über den Umgang mit Menschen“ ist eine soziale und politische Programmschrift. Adolph Freiherr Knigge8 hatte unter dem Despotismus der deutschen Kleinfürsten gelitten, er war ein erfolgreicher politisch-satirischer Romanschriftsteller, nun legte er 1788 sein Programm für die Änderung von Gesellschaft und Staat vor. Mit diesem Buch wollte Knigge die Erziehung der jungen Leute verbessern, damit die Gesellschaft eine bessere werde. Knigge schreibt allerdings kaum theoretisierend, er diskutiert eine unendliche Zahl von Situationen durch, die für junge (und mittlere und ältere) Menschen bedeutsam werden könnten, er analysiert die Teilnehmer, ihre Handlungen und ihre Motive und gibt Ratschläge über den Umgang mit ihnen: Wem kann man trauen, wem nicht? Bei welchen Menschen kann man sich selbst treu bleiben, bei wem verliert man sich? Es geht darum, Anerkennung und Respekt im Alltag zu praktizieren.
Adolph Freiherr Knigge war einer der Adligen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, die Staat und Gesellschaft für eine menschlichere Zukunft öffnen wollten. Er war mit Friedrich Schiller bekannt; er wurde öffentlich zu den gefährlichen Anhängern der französischen Revolution gezählt. Nach heutigen Begriffen war er ein linksradikaler demokratischer Publizist.
Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ eignet sich für einen Zugang zum Lernbereich Gesellschaft im Klassenzimmer. Ist Knigges Programm, jungen Leuten zu zeigen, wie man Menschenkenntnis gewinnen kann, nicht auch heute eine Aufgabe, zu der die Schule beitragen kann und sollte? Die Lehrerinnen und Lehrer müssen dafür aber bei sich und anderen ein hartnäckiges Missverständnis ausräumen: Das Buch ist kein Höflichkeitsratgeber, dazu hat ihn erst das 19. Jahrhundert gemacht.
Warum sollten sich Schülerinnen und Schüler heute mit Knigge, den Sozialkritiker und politischen Reformer, beschäftigen?

  1. Sein Nachfahre Moritz Freiherr Knigge beantwortet diese Frage so: „Was … ihn - und ebenso seine Leser - interessierte, das waren soziale Strategien, um den Reibungsverlust im Umgang mit Menschen so gering wie möglich zu halten, um unterschwellige Machtkämpfe und sinnlose Konflikte zu vermeiden und alle denkbaren gesellschaftlichen Situationen souverän zu meistern.“ (Moritz Knigge: 10)
  2. Das Buch bietet Detailanalysen sozialer Situationen, von denen junge Menschen eine große Zahl schon erlebt haben, gerade erleben oder noch erleben werden. Knigge bietet dazu keine analytische „Theorie“, aber er beobachtet genau und gibt liefert plausible Erklärungen und nachvollziehbare Verhaltensvorschläge. „Übersetzen“ die Schülerinnen und Schüler diese Situationen szenisch in die Gegenwart, werden auch Erklärungsansätze der modernen Soziologie (etwa von Krappmann oder Dahrendorf) mit ihren je eigenen theoretischen Konstrukten und den entsprechenden Begriffsapparaten für die Schülerinnen und Schüler im Unterricht zugänglicher.
  3. In dem Buch wird ein Panorama der damaligen Gesellschaft entworfen: Die einzelnen gesellschaftlichen Schichten und Klassen, wie sie wurden, was sie sind, ihre typischen Vertreter und deren Eigenheiten, ihre Vorstellungen und Anschauungen. Man kann sie sich beim Lesen auch heute noch konkret-handfest vorstellen. Das kann im Unterricht in ein Verhältnis zu gegenwärtigen makrosoziologischen Untersuchungen und Darstellungen gesetzt werden. Wie sieht es heute mit dem Einfluss und dem Selbstverständnis der Schichten und Klassen aus?
  4. A. Knigge schrieb in eine sehr fragmentierte und diversifizierte Gesellschaft hinein. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war von großen, sich wandelnden Gegensätzen und Unterschieden Widersprüchen geprägt. Ein Beispiel: Deutschland war seit der Reformation konfessionell zerrissen. Das hatte tiefe Konflikte zur Folge. Deutschland war immer schon „multikulturell“ und die kulturelle „Einheit“ der Nation vermutlich nur eine auferlegte Fiktion. Deutschland hat, wie vielleicht nicht viele andere Länder, hart und leidvoll errungene Erfahrungen damit, religiöse und weltanschauliche Gegensätze friedlich zu bewältigen. Heute ist in manchen deutschen Städten die Mehrheit der Einwohner konfessionslos; gleichzeitig verlangt der Islam erhebliche Aufmerksamkeit. Diversity ist immer schon Regelfall, Integration ist deshalb eine Aufgabe, die bewältigt werden kann (Charta der Vielfalt 2006). Mit Hillligen (1975: 28) gefragt: welche „Herausforderungen“ stehen vor uns, welche „Chancen und Gefahren“ sind darin für „Überleben“ und „Gutes Leben“ enthalten?

Knigge geht verschiedene Situationen durch, in denen andere Menschen einem jungen Menschen begegnen können:

  1. Es gibt Menschen verschiedenen Charakters, Knigge greift dabei auf die alte Lehre von den vier Temperamenten zurück, er erweitert und variiert sie.
  2. Es geht um die Menschen, mit denen der junge Mensch täglich zusammen ist, Familie und erste Liebe.
  3. Die sozialen Schichten kommen in den Blick: Von den Menschen am Hof über die verschiedenen bürgerlichen Berufe bis zu den Elendsten der Armen.

Er beschreibt zunächst die Eigenarten der Personen, dann die Risiken, denen jeder ausgesetzt ist, der mit ihnen umzugehen hat, um dann Ratschläge zu geben, wie man im Umgang mit diesen Menschen auf sich selbst achtet, aber so, dass dabei ein allgemeiner Vorteil entstehen kann.

Eine Schüsselszene für das Buch ist das Gespräch mit dem alten Landkommandeur (→ 90), in dem Knigge sich peinlich daneben benommen hatte (Knigge: 24, http://gutenberg.spiegel.de/buch/3524/5), es merkte und dennoch weiter unbesonnen handelte. Am Kasseler Hof, an dem er als junger Mann eine Stellung suchte, wurde er später gegen seinen Willen in eine Intrige verwickelt, deren unglücklicher Verlauf ihn zwang, den Hof zu verlassen. Und so ist er fast immer gescheitert. Warum? Das führte ihn zu seinem Problem: Warum scheitern Menschen in ihrem Leben (Knigge: 11) im Umgang mit anderen Menschen? Weil ihnen die Lebensklugheit fehlt.
Moritz Knigge versteht unter Lebensklugheit eine bestimmte Art von Umgang mit sich selbst, die zugleich Grundlage des Zusammenlebens der Verschiedenen sein kann:

Jeder kann sich darin üben… Lebensklugheit heißt nämlich: zu handeln, es auf andere Weise als bisher zu versuchen und sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, soweit es sich in die Hände nehmen läßt, um das Gefühl freier Selbstbestimmung zu genießen.
Wer die Schule der Lebensklugheit durchläuft, der wird sich auf jeden Fall eine Eigenschaft aneignen, die ich als Umgänglichkeit bezeichnen möchte. Das mag bescheiden klingen, ist aber ein anspruchsvolles Ziel. Denn zu dem, was ich unter Umgänglichkeit verstehe, gehören unermüdliche Verständigungsbereitschaft (aber keine grenzenlose Geduld), innere Haltung (gepaart mit Stil), unbegrenztes Einfühlungsvermögen (das nicht ständig demonstriert zu werden braucht), gute Manieren (um sie gelegentlich zu vergessen), Durchsetzungsfähigkeit (wenn’s drauf ankommt), Anpassungsvermögen (das nichts mit Selbstverleugnung zu tun hat), Menschenkenntnis (immer) und Souveränität (jederzeit). Zur Lebensklugheit gehören aber auch Scharfblick und ein Gespür für die Irrtümer und Abwege unserer Zeit, um dort Widerstand zu leisten, wo die Bedingungen des klugen Umgangs auf dem Spiel stehen - und dort beherzt mitzumischen, wo sich Chancen für einen rücksichtsvolleren und sinnvolleren Lebensstil bieten.
Ich glaube, daß wir … vernünftigen Regeln als gemeinsame Grundlage für den Umgang miteinander brauchen, solange wir noch nicht entschlossen sind, die Gesellschaft als etwas prinzipiell Feindliches und unsere Mitmenschen grundsätzlich als Gegenspieler zu betrachten.
(Moritz Knigge: 15f)

Das ist für Politiklehrerinnen und -lehrer natürlich ein interessantes Programm. Die Soziologie soll in den Schule den Schülerinnen und Schülern darin helfen, die große Welt von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft besser zu verstehen, aber auch sich selbst als Teil einer halbwegs verstandenen Gesellschaft begreifen zu können, um in dieser Gesellschaft den eigenen Platz zu finden.
3.5.1 Der Lehrstück-Kern
Die Schule kann letztlich Lebensklugheit nicht vermitteln, aber sie kann die Schülerinnen und Schüler auf diese wichtige Herausforderung aufmerksam machen. Das lohnt nicht nur dann, wenn damit zugleich ein Zugang in sozialwissenschaftliche Theorie gewonnen werden kann. Denn Knigges Buch enthält die Beschreibung vieler Situationen und Vorschläge zu ihrer Bewältigung, damit die - wie wir heute sagen würden - „soziale Kompetenz“ der Leser wächst.
Die Schülerinnen und Schüler reinszenieren also Situationen (etwa: über den Umgang von Menschen verschiedenen Alters, von Eheleuten den Umgang mit Geringeren) aus Knigges Buch und übertragen sie in die Gegenwart. Die Schülerinnen und Schüler stellen in Gruppen in Knigges Buch enthaltenen Situationen und ihre Übertragung in die Gegenwart mitsamt einigen Alternativen als „Diashows“ dar. (Unter einer „Diashow“ soll eine Folge von Standbildern nach Scheller: 59ff verstanden werden, die nacheinander eine Handlung abgeben, ein kleines Theaterstückchen.) Diese Diashows können im Klassenzimmer vorgespielt werden. Mit der Verbreitung der Digitalfotografie wurden sie mit einem gewissen Kostümaufwand in der elterlichen Wohnung hergestellt und als Diashows mit Overheadprojektoren oder Beamersystemen der Lerngruppe gezeigt.
Ein Beispiel: Der „Umgang mit Geringeren“. Die Gruppe stellt zunächst die Auffassungen Knigges vor und zeigt dann in kleinen Spielszenen, wie sie ihn versteht:

In dem Kapitel über den Umgang mit Geringeren beschreibt Knigge wie man sich gegenüber Niederen, wie z.B. Dienern, zu verhalten hat.
Man sollt immer höflich und freundlich und keinesfalls herablassend gegen solche Menschen sein, die aus dem niederen Stande stammen und denen nicht so viel Glück und Wissen zugeworfen wurde, wie einem selbst.
Man vernachlässige nicht, sobald ein Reicherer gegenwärtig ist, den Armen, welchen man unter vier Augen mit Freundschaft und Vertraulichkeit behandelt, schäme sich nicht, öffentlich diesen vor der Welt zu ehren, der Achtung verdient, auch wenn er keinerlei Statussymbol des höheren Standes vorzuweisen hat. Jedoch sollte man die niederen Klassen nicht aus Eigennutz und Eitelkeit bevorzugen, um so vor den anderen als besonders großzügig dazustehen.
Auch sollte man nicht glauben, dass man bekannt und natürlich sei, wenn man die Sitten des geringeren Volkes nachahmt. Knigge schreibt, dass man den Mensch als solchen sehen sollte und lernen müsste dessen Wert zu schätzen, egal aus welchem Stande er kommt.
Aber dennoch erweise man ihm auch nicht so viel Höflichkeit, dass diese schon übertrieben wirkt.

Es geht um eine Alltagssituation. Ein reicher Mann und eine „normale“ Frau treffen sich zufällig im Verfkaufsraum eines Autobetriebes; er besitzt ein sehr teures Auto, sie hat einen schon recht betagten Kleinwagen. Zunächst unterhält er sich zwar freundlich, aber doch mit einem gönnerhaft-herablassenden Unterton mit ihr. Eine Bekannte des Reichen kommt hinzu. Sofort ignoriert er seine bisherige Gesprächspartnerin und spricht nur noch laut und unüberhörbar mit seiner Bekannten über die Probleme, die man so hat, wenn man ein ganz teures Auto fährt. Bei der Vorführung im Klassenzimmer tat es weh zu sehen, wie die einfachere Frau ausgeschlossen wird und alle ihre Versuche, wieder ins Gespräch zu kommen, scheitern. Im zweiten Durchgang wird die Frau mit dem Kleinwagen in ein Gespräch über ein unverfängliches Alltagsthema mit einbezogen. Das ist zwar nicht besonders spannend, aber auch nicht schmerzend.

Inwieweit gilt Knigge noch – in seiner allgemeinen Absicht – am ausgesuchten Gegenstand?
Unserer Meinung nach gilt Knigge auch heute noch. Vielen Menschen ist es immer noch sehr wichtig sich in bestimmten Situationen angemessen zu verhalten.
Auch haben sich die Umgangsformen in vielen Bereichen nicht verändert, da er sehr zeitlose Themen gewählt hat. Dass Knigge auch heutzutage aktuell ist, erkennt man daran, dass es immer noch viele Bücher über den Umgang mit Menschen gibt und dass die „Benimmregel“ auch durch andere Medien, wie zum Beispiel, das Fernsehen, publiziert werden.
Für den von uns ausgesuchten Gegenstand, den Umgang mit Geringeren, gilt Knigge eigentlich auch ebenfalls noch in seiner damaligen Form. Früher war jedoch der Unterschied zwischen Armen und Reichen viel größer als er heutzutage ist. Und die Unterschiede waren deutlicher zu sehen, es bestand nicht, wie es nun zu unserer Zeit der Fall ist, eine solch große Mittelschicht.

Einige Arbeitsgruppen haben an ihrem Thema Vergangenheit und Gegenwart miteinander verglichen. Die Darstellung „Kunden in einer Autowerkstatt“ ist realistisch. Fehler, wie die hier beschriebenen, werden täglich tausendfach gemacht. So kann ein kleiner „Knigge“ für heutige Schülerinnen und Schüler entstehen, in dem sie ihr Verhältnis zu anderen Menschen in ihrer Umgebung, aber auch zu fremden Menschen anderer sozialer Schichten, Milieus und Kulturen reflektieren.
Die Dokumentation gelingt heute mit digitaler Fotografie sehr leicht. Die Gruppen können ihre Präsentationen über Beamer-Systeme der ganzen Lerngruppe zur Diskussion vorstellen. Die anderen Schülerinnen und Schüler werden um Verbesserungen gebeten. Meist sind die Schülerinnen und Schüler sich schnell einig darüber, welches Verhalten „nicht geht“, lernen dann aber, dass es oft kein „richtiges“ Verhalten gibt, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher möglicherweise gleich guter Alternativen, abhängig von der Sicht auf das Ereignis und den Interessen, die in der Situation verfolgt werden. Die Ergebnisse dieser Diskussionen fließen in die Dokumentation ein, sie können sogar zu einer neuen Erstellung einer Diashow führen. Die Gruppen werten ihre Arbeit anhand vorgegebener Fragen in einem Text aus. Diese Fragen und Antworten lassen die Schülerinnen und Schüler die Absicht Knigges (Lebensklugheit, gegenseitige Anerkennung, Verbesserung des Miteinanders) erkennen und ermöglichen ihnen eine kritische Bewertung ihres Verhaltens und der Verhaltensvorschläge, die Knigge. Das ist die erste Möglichkeit, mit Knigge im Unterricht zu arbeiten. Sie führt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Text, mit dem eigenen Verhalten und den eigenen Wertvorstellungen und Erwartungen.

Tabelle 14: Wie das Lehrstück begonnen wurde: Die Frage nach der Lebensklugheit
1.
Knigges grundlegendes Problem: Das Scheitern der Klugen
2.
Knigges grundlegendes Exempel: Knigge und der alte Landwehrgeneral im Theater
3.
Situationen aus dem „Umgang mit Menschen“ inszenieren: „falsch - richtig“, zur Diskussion stellen,
4.
dabei am eigenen Fall und an den Fällen der anderen Schülerinnen und Schüler Regeln des klugen und geschickten Verhaltens erarbeiten.


In einem weiteren Durchgang sollte in einer 11. Klasse geprüft werden, ob modernes sozialwissenschaftliches Wissen mit Knigges Hilfe erlernt werden. Ich schaute mich in verschiedenen Schulbüchern für die gymnasiale Oberstufe nach einem Text um, von dem ich vermutete, er könne so etwas wie ein theoretischer Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen sein, für die Knigge seine Hilfestellung anbietet. Ich fand einen Text von Lothar Krappmann, den ich im Unterricht in ein Verhältnis zu einem einleitenden Abschnitt aus Knigges Buch setzen ließ. In diesem Abschnitt verdeutlicht Knigge dem Leser das Problem: Als er mit dem Landkommandeur – einem alten Herrn von hohem Rang – sprach, überschritt er Grenzen. Er wollte den Landkommandeur zwar beeindrucken, aber nicht auf eine Weise, die seinem Gegenüber angenehm war, sondern in einer Art, die er nur zu seiner Darstellung vor sich selbst brauchte. Damit aber verpatzte er das Verhältnis zu dem älteren Menschen. Der junge Knigge hatte jene Leistung nicht erbracht, die Krappmann „Identität“ nennt. Die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen des Gegenüber verfehlte er zu seinem eigenen Nachteil.
Dazu wurde eine Klausur geschrieben. Der Text der Klausur wird hier vollständig wieder gegeben, damit deutlich wird, wie sehr beide Texte aufeinander bezogen gelesen werden können.

Klausur 11. Klasse Gemeinschaftskunde

Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Einleitung, Abschn. 4, Auszug:
Ich trat als ein sehr junger Mensch, beinahe noch als ein Kind, schon in die große Welt und auf den Schauplatz des Hofes. Mein Temperament war lebhaft, unruhig, bewegsam, mein Blut warm; die Keime zu mancher heftigen Leidenschaft lagen in mir verborgen; ich war in der ersten Erziehung ein wenig verzärtelt und durch große Aufmerksamkeit, deren man meine kleine Person früh gewürdigt hatte, gewöhnt worden, sehr viel Rücksichten von andern Leuten zu fordern. In einem freien Vaterlande aufgewachsen, wo Schmeichelei, Verstellung und ein gewisses kriechendes Wesen nicht sehr zu Hause sind, hatte man mich freilich auch nicht zu jener Geschmeidigkeit vorbereitet, deren ich bedurfte, um, unter mir ganz fremden Leuten, in despotischen Staaten große Fortschritte zu machen; auch ist der theoretische Unterricht in wahrer Weltklugheit bei der Jugend teils selten mit Erfolge, teils nicht immer ohne Gefahr zu erteilen; eigene Erfahrung muss da in der Folge das Beste tun. Diese Lektionen, wenn man das Glück hat, wohlfeil daran zu kommen, sind von der heilsamsten Wirkung und prägen sich tief ein. Noch erinnere ich mich einer kleinen Szene von der Art, die mich auf eine Zeitlang vorsichtig machte: Ich saß in C*** in der italienischen Oper, in der herrschaftlichen Loge; ich war früher als der Hof gekommen, weil ich mittags nicht auf dem Schlosse, sondern in der Stadt zu Gaste gespeist hatte; noch waren wenig Menschen da; in der ganzen Reihe des ersten Rangs saß nur der einzige Landkommandeur, Graf J***, ein würdiger Greis. Er hatte, wie es scheint, auch darauf gerechnet, daß es schon später wäre, als es wirklich war; weil er nun Langeweile hatte und mich gleichfalls einsam da sitzen sah, so trat er zu mir herein und fing eine Unterredung mit mir an. Er schien sehr zufrieden mit dem, was ich ihm über verschiedene Gegenstände, von denen ich einige Kenntnis besaß, sagte; der Greis wurde immer freundlicher und herablassender, und dies kitzelte mich so sehr, daß ich darauf allerlei Seitensprünge in meinem Gespräche machte und zuletzt ein wenig medisant wurde. Endlich entwischte mir eine mir gegenwärtig nicht mehr erinnerliche grobe Unvorsichtigkeit im Reden; der Graf sah mir ernsthaft in das Gesicht, und ohne weiter ein Wort zu verlieren, ließ er mich stehn und ging zurück in seine Loge. Ich fühlte die ganze Stärke dieses Verweises, aber die Arzenei half nicht lange. Meine Lebhaftigkeit verleitete mich zu großen Inkonsequenzen; ich übereilte alles, tat immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh oder zu spät, weil ich immer entweder eine Torheit beging oder eine andere gutzumachen hatte. Daher kamen unendliche Widersprüche in meinen Handlungen, und ich verfehlte fast bei allen Gelegenheiten des Zwecks, weil ich keinen einfachen Plan verfolgte. …
- Und so vergingen dann die Jahre, in welchen ich hätte mein Glück machen können, wie man das gewöhnlich nennt. Jetzt, da ich die Menschen besser kenne, da Erfahrung mir die Augen geöffnet, mich vorsichtig gemacht und vielleicht die Kunst gelehrt hat, auf andre zu wirken, jetzt ist es zu spät für mich, diese Wissenschaft in Anwendung zu bringen. Mein Rücken krümmt sich mit Mühe zu Reverenzen (Achtungsbekundungen; HL); ich habe nicht viel unnütze Zeit mehr zu verschwenden, die ich preisgeben könnte; das Wenige, was ich noch in dem Reste meines Lebens auf solchen Wegen erlangen könnte, lohnt die Mühe und Anstrengung nicht, die mich das kosten würde, und es ziemt dem Mann, dessen Grundsätze Alter und Erfahrung befestigt haben, ebenso wenig, jetzt erst anzufangen, den Geschmeidigen wie den Stutzer zu spielen. - Es ist zu spät, sage ich, mit der Ausübung anzuheben, aber nicht zu spät, Jünglingen zu zeigen, welchen Weg sie wandeln müssen - und so lasset uns denn den Versuch machen und der Sache näherrücken! (Knigge[1790] 2004: 38-41)

Krappmanns Vorstellungen von Identitätsbildung:
Die vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung soll hier mit „Identität“ bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in Beziehung treten kann, muss es sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist. Diese Identität interpretiert das Individuum im Hinblick auf die aktuelle Situation und unter Berücksichtigung des Erwartungshorizonts seiner Partner. Identität ist nicht mit einem starren Selbstbild, das das Individuum für sich entworten hat, zu verwechseln; vielmehr stellt sie eine immer neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligung des Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten, dar. Diese Identität stellt die Besonderheit des Individuums dar; denn sie zeigt, auf welche Weise das Individuum in verschiedenartigen Situationen eine Balance zwischen widersprüchlichen Erwartungen, zwischen den Anforderungen der anderen und eigenen Bedürfnissen sowie zwischen dem Verlangen nach Darstellung dessen, worin es sich von anderen unterscheidet, und der Notwendigkeit, die Anerkennung der anderen für seine Identität zu finden, gehalten hat.
Identität zu gewinnen und zu präsentieren ist ein in jeder Situation angesichts neuer Erwartungen und im Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Identität von Handlungs- und Gesprächspartnern zu leistender kreativer Akt. Er schafft etwas noch nicht Dagewesenes, nämlich die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums für die aktuelle Situation.
(Krappmann [1972] 2002: 55)

Aufgaben:
1. Welches – zuerst Jugendliche, aber eigentlich alle Menschen, auch die Erwachsenen betreffende Problem – beschreibt Knigge hier? a) Erläutere es zunächst an Hand des Textes! b) Zeige dann, wie man den von Knigge geschilderten Vorgang mit Krappmann verstehen kann?
2. Raten Knigge und Krappmann eigentlich dazu, sich selbst zugunsten der anderen Menschen aufzugeben? (Befürchtungen und Meinungen)

Ich dokumentiere nur aus einer einzigen Arbeit, geht es in diesem Abschnitt dieser Arbeit ausschließlich um die Möglichkeit, ob Schülerinnen und Schüler mit Knigge einen Zugang zu moderner sozialwissenschaftlicher Theorie finden können.

1b. Krappmann erklärt die Situation, indem er sagt, dass jeder Mensch eine Identität benötigt, um mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu handeln. Um das zu können, muss man etwas tun, und dieses Tun, das jeder Mensch ein wenig anders macht, ist seine Identität, die einen von den anderen Menschen unterscheidet und dadurch dem Gegenüber zeigt, wer man ist.
Man muss nun seine eigene Identität zeigen, gleichzeitig aber auch die Identität des Gegenübers untersuchen, dessen Erwartungen analysieren und sie so in die eigene Identität einbringen, dass das Gespräch funktioniert. Man muss seine persönliche Identität bei jeder Kommunikation neu zusammenstellen und die Balance finden zwischen den eigenen Anforderungen und Bedürfnissen und den Erwartungen des Anderen. Gleichzeitig muss man auch die Balance halten zwischen der individuellen Darstellung, die einen aus der Masse abhebt und unterscheidet und der Darstellung, die dem Gegenüber gefällt und imponiert. Genau diesen Balanceprozess beherrscht Knigge in seinem Beispiel nicht. Seine Identität ist nicht ausbalanciert, sondern seine eigenen Anforderungen und Bedürfnisse überwiegen. Er schaffte es nicht, die Erwartungen des Kommandeurs zu analysieren und sie in seine Identität einfließen zu lassen, und er schafft es nicht, mit seiner Darstellung dem Kommandeur zu gefallen, sondern beschränkt sich darauf, sich mit seiner Darstellung von den Anderen zu unterscheiden. Krappmann bezeichnet dies als einen „kreativen Akt“ und der gelingt Knigge aufgrund seines geringen Alters und seiner damit verbundenen geringen Lebenserfahrung nicht. Diesen Akt muss man laut Krappmann in jeder Situation und bei jeder Kommunikation neu leisten. Die Leistung, dem Kommandeur eine ausbalancierte Identität zu präsentieren, gelingt Knigge nicht, so dass es, wenn man Krappmann folgt, gar nicht zu einer funktionierenden Kommunikation kommen kann und man sieht dessen Argumentation bestätigt, wenn man das Ende der Kommunikation zwischen Knigge und dem Kommandeur betrachtet: Der Kommandeur geht beleidigt oder verletzt fort; die Kommunikation ist gescheitert.
2. Knigge und Krappmann raten nicht dazu, sich selbst aufzugeben. Besonders deutlich sieht man es bei Krappmann, der von einer Balance spricht. Man muss immer seine eigenen Bedürfnisse beibehalten, sonst verliert man seine individuelle Darstellung. Diese beiden Punkte sind die eine Seite der Identität, ohne sie hätte man folglich auch gar keine Identität und würde ständig nur den Anderen nach dem Mund reden, wodurch man die andere Seite der balancierten Identität auch noch zerstören würde, denn mit ständigem Nachplappern und „Einschleimen“ bekommt man weder Anerkennung für seine Identität noch erfüllt man die Erwartungen des Anderen (vorausgesetzt, er ist an einer anderen Meinung interessiert). Bei unserer eigenen Knigge-Präsentation haben wir das auch deutlich gemacht. Wenn man es mit einem schlechten Lehrer zu tun hat, ist es keineswegs gut, das einfach zu akzeptieren und nichts zu tun, denn das eigene Bedürfnis besteht ja auch darin, die Zeit in der Schule sinnvoll verbringen, um die Leiden erträglich zu gestalten. Man muss also seinen Bedürfnissen folgen und nach Lösungen suchen. Gleichzeitig aber muss man auch seine Bedürfnisse berücksichtigen, nicht zuviel Energie in die Problemlösung stecken. Es ist also auch nicht richtig, bei einem offenkundig schlechten Lehrer, bei dem man nichts lernt, immer aufzupassen und mitzuarbeiten, wenn als Ergebnis nichts dabei herauskommt. Das vergeudet Energien, die an anderer Stelle fehlen, an der sie vielleicht nützlicher und mit mehr Ertrag verwendet werden können. Auch hier ist die Lösung wieder die Balance. Weder das eine noch das andere Extrem führen zum Erfolg.

Der Schüler konnte in dieser Klausur zunächst den Zusammenhang zwischen dem Konflikt Knigges mit dem Landkommandeur und der Theorie in schon recht feiner Weise erfassen und dann die Absicht Knigges und die Theorie Krappmanns so formulieren, dass dabei eine Entwicklungsaufgabe für Jugendliche deutlich wird. Diese Leistung haben fast alle Schülerinnen und Schüler erbracht, die einen sehr gut – wie dieser Schüler – , andere nur leicht schwächer. Mir zeigte diese Klausur, dass es prinzipiell möglich ist, mit Knigge den Schülerinnen und Schülern moderne sozialwissenschaftliche Theorie zugänglich zu machen. Es müssen in einem weiteren Durchgang aber noch andere Theorien in die Prüfung einbezogen werden; eine Zukunftsaufgabe. Dieser Kern des Lehrstücks ist als Vorbereitung zur Arbeit mit Soziologie geeignet.

Tabelle 15: Wie das Lehrstück bislang gestaltet wurde - mikrosoziologisch
1.
Ein exemplarischer Jugendkonflikt, am Besten was Aktuelles, das gerade allgemeine Aufmerksamkeit erregt und zu der Frage führt: „Wie soll ich mich verhalten? Was wird von mir erwartet?
2.
Ein Beispiel, wie ich es nicht machen soll: Knigge und der alte Landwehrgeneral im Theater
3.
Situationen aus dem „Umgang mit Menschen“ inszenieren: „falsch - richtig“, zur Diskussion stellen
4.
Situation mit Krappmann interpretieren
5.
Rückgang auf den Anfang zum aktuellen Konflikt oder zu dem Problem, das sich in dem Konflikt ausdrückt


Knigge entwirft in seinem Buch einen Überblick über die Gesellschaft seiner Zeit. Er fängt bei den Fürsten an, beschreibt ihre Verhaltensweisen und gibt Ratschläge zum Umgang mit ihnen. Es geht um den Umgang mit Hofleuten, Geistlichen, Gelehrten, Künstlern, Ärzten, Juristen, Juden, Pferdehändlern und Bauern, mit den Dienstleuten und mit mystischen Geistersehern. Dies kann ein Vorschlag sein, die verschiedenen sozialen Schichten imKlassen zimmer auftreten zu lassen, damit die Struktur der Gesellschaft konkreter erfahren wird.

Tabelle 16: Wie das Lehrstück gestaltet werden könnte - makrosoziologisch
1.
Ein Konflikt zwischen Armen und Reichen, der das gegenseitige Unverständnis zum Ausdruck bringt, samt Vorurteil: „Ja, so sind sie!“, am Besten was Aktuelles, das gerade allgemeine Aufmerksamkeit erregt und zu der Frage führt: „Wie sollen Arm und Reich miteinander umgehen?“
2.
Ein Beispiel, wie man es nicht machen soll: Knigges „Umgang mit Geringeren“
3.
Situationen aus dem „Umgang mit Menschen“ inszenieren: „falsch - richtig“, zur Diskussion stellen
4.
Situationen mit Marx, Bourdieu, Hartmann und/oder Geissler interpretieren,
5.
Rückgang auf den Anfang zum aktuellen Konflikt oder zu dem Problem, das sich in dem Konflikt ausdrückt

Eine integrationspolitische Verwendung dieses Lehrstücks kann die Konflikte, die sich aus dem Zusammenleben von Menschen verschiedene Herkünfte ergeben, thematisieren und den Umgang mit ihnen einüben:

Tabelle 17: wie das Lehrstück gestaltet werden könnte - integrationspolitisch
1.
Ein Konflikt zwischen „Einheimischen“ und Zugewanderten, der das gegenseitige Unverständnis zum Ausdruck bringt, samt Vorurteil: „Ja, so sind sie!“, am Besten was Aktuelles, das gerade allgemeine Aufmerksamkeit erregt und zu der Frage führt: „Wie sollen Menschen verschiedener Herkünfte miteinander umgehen?“
2.
Ein Beispiel, wie man es nicht machen soll: Knigges „Gespräche über Religion“
3.
Situationen aus dem „Umgang mit Menschen“ inszenieren: „falsch - richtig“, zur Diskussion stellen
4.
Situationen mit einem politisch-amtlichen Integrationskonzept und/oder der „Diversity“-Konzeption interpretieren,
5.
Rückgang auf den Anfang zum aktuellen Konflikt oder zu dem Problem, das sich in dem Konflikt ausdrückt

Der Kern des Lehrstücks ist immer wieder die Aneignung des „Umgangs mit Menschen“: Hier müssen viele Warum-Fragen von den Schülerinnen und Schülern aufgeworfen werden, die sie zu beantworten versuchen: Warum verhalten sich die Menschen so wie sie es tun? Warum ist das eine oder andere Verhalten nützlich bzw. schädlich? Warum ist es klug / unklug, sich so und so zu verhalten? Warum scheitern die einen, die anderen nicht?
3.5.2 Exemplarisch - genetisch - dramaturgisch
Exemplarisch: Man sollte auch hier für ein Lehrstück mit der klassischen Politikdidaktik von einem realen oder semirealen Fall (K. G. Fischer), einem Problem (Hilligen) oder einem Konflikt (Giesecke) ausgehen. Ein Jugendlicher beispielsweise verhält sich nicht unangemessen - wie Knigge in seinen Jahren am Kasseler Hof - und bekommt Probleme, von seiner Umgebung akzeptiert zu werden. Wie soll das Problem gelöst werden? Für das Verständnis des Falls wird Knigge herangezogen. Knigge hat in einer Epoche gesellschaftlicher Umbrüche, am Beginn der Zeit, in der die verschiedenen sozialen Klassen und Schichten Mitsprache verlangten, diese Frage mit einer Vielzahl von situationsbezogenen Ratschlägen beantwortet. Die Breite und die Konkretheit seiner Antworten regen an, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Damit verweist das Buch in viele Zusammenhänge: Psychologie, Mikrosoziologie und Makrosoziologie und, nicht zu vergessen, auf ethische, politische und auch rechtliche Zusammenhänge. Es ist eher die Fülle der Möglichkeiten, die die Unterrichtsplanung überfordert. Deshalb muss der Lehrer eine genaue Vorstellung von seinen Zielen im Unterricht haben.
Wie soll der Lehrer den Fall auswählen, den die Schülerinnen und Schüler behandeln sollen? Es ist sinnvoll, die Schülerinnen und Schüler das Buch selbst entdecken zu lassen, damit sie bearbeiten, was sie interessiert. Das Inhaltsverzeichnis ist schon sehr aufschlussreich. Die dazu gehörenden Texte gibt es für die Schülerinnen und Schüler gut verfügbar im Internet. Sie werden dort schon etwas finden, das zu verallgemeinerbarer Kenntnis, Erkenntnis und Einsicht führt.
Wenn der Lehrer weiß, dass er vom Knigge-Buch zu modernen sozialwissenschaftlichen Theorien will, kann es sinnvoll sein, wenn er selbst bestimmte Situationen aus dem Buch auswählt und sie von den Schülerinnen und Schülern in einer Weise szenisch spielen lässt, wie sie oben beschrieben ist.
Die bei Knigge gewonnen Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten schaffen eine Brücke zum Verständnis des aktuellen Vorgangs, der auf diese Weise grundlegender gefasst werden kann. Dahrendorf zeigt seine Rollentheorie (Dahrendorf 29ff). Soll das Lehrstück einen anderen Weg gehen - in ein Thema der Makrosoziologie wie der Untersuchung der Gesellschaft nach Klassen und Schichten oder der Migrations-Integrationsproblematik - ist ein anderer aktueller Vorgang (Fall/Problem/Text) Exempel zu nehmen.
Bei meinen ersten Inszenierungen des Lehrstücks suchten die Schülerinnen und Schüler durch Blättern und Stöbern mithilfe des Inhaltsverzeichnisse eine sie interessierende Situation, inszenierten sie mit Standbildern und Diashows und tauschten ihre Auffassungen zu ihren Lösungsvorschlägen aus, um Lebensklugheit zu gewinnen. In einem späteren Durchgang, einige Schuljahre später, brachte die damalige Studentin Rieke Schäfer in ihrem Schulpraktikum den rollentheoretischen Ansatz mit dem Text über den Studienrat Dr. Schmidt in das Lehrstück9. Dieses semirealistische Exempel kann mit den Inszenierungserfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler am Knigge-Buch gemacht haben, erschlossen werden.
Führten die bisherigen (mikrosoziologischen) Ansätze, dieses Lehrstücks mit Dahrendorf und Krappmann zu einem vertieften Verständnis der Schülerinnen und Schüler für ihre eigenen Entwicklungsaufgaben, so fehlt noch eine makrosoziologische Ausgestaltung. Es geht Knigge auch um ein Verständnis von sozialer Schichtung von gesellschaftlichen Klassen und von sozialer Ungleichheit. Für ihn war die Gesellschaft, in der er lebte, eine der bösesten und borniertesten Ungleichheit. Er führte seinen jungen Lesern die Ungleichheit in der Gesellschaft vor Augen, damit sie sie im Alltag vermenschlichen. Vielleicht lässt sich hier mit den Armutsberichten der Bundesregierung, mit Reiner Geissler (Geissler 2008), Pierre Bourdieu (Bourdieu 1982) oder mit Michael Hartmann (Hartmann 2004) arbeiten, das ist noch auszuprobieren.
Das Lehrstück kann auch noch in eine dritte Richtung erweitert werden. Migration und Integration sind wesentliche Themen der Politik geworden. Für Hamburg hat der (CDU-)Senat 2007 ein integrationspolitisches Konzept beschlossen:

Die Entwicklung Hamburgs zu einer wachsenden und pulsierenden Metropole mit internationaler Ausstrahlung hängt auch davon ab, inwiefern es gelingt, Zugewanderte und ihre Familien in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben zu integrieren. Integration entspricht auch den Wertmaßstäben unserer Gesellschaft, den Prinzipien von Gleichberechtigung und Respekt. Integration aller rechtmäßig und dauerhaft in Hamburg lebenden Zuwanderer ist eine ständige Aufgabe, die mit dem vorliegenden Handlungskonzept des Hamburger Senats auf die Hauptzielsetzungen fokussiert und optimiert wird.“ Behörde für Soziales Hamburg 2007

Mit den islamischen und den alewitischen Gemeinschaften in Hamburg hat der (SPD-)Senat 2012 jeweils einen Vertrag geschlossen, der z.B. die rechtliche Bedeutung der religiösen Feiertage und den Religionsunterricht regelt (SPIEGEL-online 2012). Darin werden sie den christlichen Kirchen gleichgestellt.
Genetisch: In diesem Lehrstück ist der Werdegang des Wissens vorwiegend ein individualgenetischer: Die Schülerinnen und Schüler erleben sich selbst in elementarisierten gesellschaftlichen Situationen und beginnen, sie mit ihrer Alltagssprache zu erfassen. Knigges Sprache ist dabei sehr hilfreich. Die sozialwissenschaftliche Sprache, die mit der modernen Theorie erworben werden soll, wird auf diese Weise vorbereitet. So entsteht mit Knigge aus der alltagssprachlichen Begegnung mit einer sozialen Situation und ihrer fachsprachlichen Bewältigung ein kategoriales System von Wissen bei den Schülerinnen und Schülern. Sie lernen, ihre Entwicklungsaufgaben besser zu verstehen.
Dramaturgisch: In diesem Lehrstück müssen die Schülerinnen und Schüler sich erst einen (für sie) wichtigen Teil in kleinen Schauspielen (Diashows) erarbeiten. Damit klären sie (für sie selbst) wesentliche Situationen ihres Lebens in der Gesellschaft. Sie erfahren dabei Handlungsalternativen. Dieser Teil des Lehrstücks bleibt alltagssprachlich. Damit können sie einen Sprung in sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit machen, die nun wieder in kleinen Handlungen erschlossen werden kann. Vielleicht kann diese Begrifflichkeit dann wieder auf die von ihnen gewählte Ausgangssituation angewendet werden.


Abb. 10: Thematische Landkarte zum Knigge-Lehrstück



3.6 Die UAZ - Unsere Abend-Zeitung
Obwohl das Lehrstück „UAZ - Unsere Abend-Zeitung“ von Martin Kampling eigentlich für den Deutsch-Unterricht entwickelt worden ist, ist es auch im Politikunterricht verwendbar. Die Lehrstückkomposition hat Stephan Schmidlin verfasst:

Redigieren ist das Kerngeschäft beim Zeitungsmachen und die kollektive Redaktionsarbeit deshalb auch die direkt bildende Tätigkeit bei der medialen Weltaneignung unserer Schülerinnen und Schüler, wenn sie ihre UAZ produzieren.
Wie entsteht täglich eine neue Zeitung? Das ist die simple Sogfrage beim Lehrgegenstand „Tageszeitung“. Und die Antwort ist ebenso einfach : Macht doch selbst eine, dann wisst ihr es!

Abb. 11: Nicolas Delafond (Henry Gascard 1667)
Um den Start zu beschleunigen – Zeitungsmachen ist ja ein Rennen gegen die Zeit –, ist das Schulzimmer bereits zu einem Redaktionsraum umfunktioniert mit drei bis vier Arbeitsinseln, Tischen mit Scheren, Klebstiften, Maquetten und einem Stapel der aktuellen Ausgabe der regionalen Tageszeitung. Die rund vierzig Seiten der gleichen Ausgabe hängen zur besseren Übersicht an einer Wäscheleine quer durchs Zimmer. Dann der Anstoß durch die Lehrkraft : „Eure Aufgabe wird sein, bis heute Mittag, punkt 12 Uhr, vier Seiten einer Abend-Zeitung herzustellen, nämlich Unsere Abend-Zeitung UAZ. Dazu habt ihr zuerst die vierzig Seiten der hier aufgehängten heutigen Ausgabe der Zeitung zu lesen, das für euch Wichtigste auszulesen, auszuschneiden und zusammenzustellen. Und so machen wir’s jetzt jeden Tag.“
Es gibt keinen einzelnen historischen „Erfinder“ der Zeitung, der uns zeigen könnte, wie man Zeitung macht. Allerdings gilt der Amsterdamer Journalist Nicolas Delafond als einer der ersten Zeitungsmacher. Zusammen mit der Klasse können wir das historische Porträt aus dem 17. Jahrhundert enträtseln. Die Gesten verraten den Stolz, mit dem der erste Redaktor seine fertige (zweiseitige) Zeitung zeigt, und die Feder verweist auf seine eigene Leistung dabei. Und vorher? Welche Geste machte er, um seine Korrespondentenberichte aus aller Welt zu sammeln, die er am Hafen abholte? Natürlich das große „V“ – jene Geste, die noch heute jede Zeitungsredaktion macht, um aus rund vierhundert Seiten Agenturmaterial die vierzig Seiten der Tageszeitung zu produzieren. Und die wir jetzt jeden Tag auch machen bei der Auswahl unseres Materials für die UAZ. Nur heißt die Formel bei uns: „Aus 40 mach 4“! Konnte Delafond seine Zeitung noch im Alleingang redigieren, so ist heute überall Teamwork angesagt, auch bei unserer UAZ. Die Einzelteams an den Arbeitsinseln bilden je eine Redaktion, die ihre vier Seiten tägliche UAZ als Vorschlag in der Gesamtredaktion verteidigen muss. Geleitet von Schülerinnen und Schülern, spätestens ab Tag zwei.
Wachsende Eigenleistung
Die aus der V-Geste abgeleitete Formel und der tägliche Redaktionsschluss um 12 Uhr strukturieren von Anfang an unsere Arbeitstage. Jeder Tag ist gleich, aber unsere Zeitung jeden Tag anders – wie bei der „richtigen“ Zeitung. Und wir lernen jeden Tag dazu!

Abb. 12: Nicolas Delafond (José Rabanal)
1. Tag: Bei Redaktionsschluss sind alle Teamzeitungen gelayoutet und geklebt. Jetzt trifft sich die gesamte Klasse zur Redaktionskonferenz, deren Leitung zunächst die Lehrkraft übernimmt. Die vier oder fünf UAZ-Varianten hängen nun nebeneinander an der Wäscheleine, und die einzelnen Teamchefs präsentieren ihre Zeitung und begründen bzw. verteidigen Auswahl und Platzierung der Artikel und Bilder.
2. Tag: Heute wird unsere UAZ noch aktueller: Bereits am zweiten Tag kommen einige selbst erstellte Meldungen ins Blatt, und Schülerinnen und Schüler leiten fortan die Redaktionssitzungen selbst.
3. Tag: Neu dazu kommt heute eine Redaktionskonferenz zu Beginn mit einer Blattkritik, erste Onlinemeldungen werden integriert, und nachmittags schwärmen die jungen Journalistinnen und Journalisten aus auf Recherche und zu Interviews, zum Beispiel zum Thema „Littering“.
4. Tag: Ab heute erscheint bereits die ganze Zeitung im Profilayout; wir bereiten unsere Rechercheergebnisse auf und planen Druck und Vertrieb der fünften Ausgabe.
5. Tag: Die UAZ mit unseren Eigenbeiträgen erscheint gedruckt und wird im Schulhaus und bei den Eltern vertrieben. (Schmidlin: 14f)

Im Lehrstück-Buch werden die verschiedenen Durchgänge dieses Lehrstücks an verschiedenen Schulen sehr schön dokumentiert, deshalb können hier weitere Erklärungen unterbleiben. Tilman Grammes setzt seinen Kommentar (in Schmidlin: 149-159) unter die verblüffende Überschrift „UAZ - Unsere Abend-Zeitung - ein elementares Soziologie-Lehrstück“:

Aber ist „Zeitung“ überhaupt der einzige Inhalt dieses Lehrstücks? Mir hat sich bei der Lektüre der Unterrichtsreportagen noch ein zweites implizit mitlaufendes Thema aufgedrängt: die soziale Gruppe. UAZ ist ein elementares Soziologie-Lehrstück! Soziologie ist die faszinierende Wissenschaft von den Prozessen menschlicher Interaktion und Kommunikation. In den Redaktionen geht es um soziales Lernen, um kluge Organisation; es «menschelt» die Gruppendynamik. Es gibt konkurrierende Teams, arbeitsteilige und arbeitsgleiche Gruppenarbeit. In und zwischen ihnen wird „gestritten, diskutiert, begründet und nach Kompromissen gesucht“ (S. 54); es gibt sogar „Streitgespräche“ (S. 79), …. – von wegen „harmoniebedürftige“ Lehrkunst! Kernfragen der humanen Arbeitsorganisation im menschlichen Zusammenleben stellen sich: Wer soll entscheiden – alle oder einer? Ist die Teamchefin Königin, prima inter pares oder „nur“ Moderatorin? … Ganz viele Menschen sind nicht glücklich an ihrem Arbeitsplatz – wie ist das bei uns? Die Standbilder (S.82 oder 83) geben dazu einen ausgezeichneten Reflexionsimpuls. UAZ ist ein Lehrstück in einem eigentlich notwendigen Unterrichtsfach Organisationslehre. Redaktionsarbeit fördert die Entwicklung sozialer Intelligenz, von Kooperation und Kollegialität in den unübersichtlichen Verhältnissen der modernen Welt. Was ist ein kluges Verhältnis von Diskussionszeit und Beschluss? Wie steht es um die Qualität einer Entscheidung unter Zeitdruck? Wie ist das Spannungsverhältnis von Effizienz und Partizipation zu balancieren? Wie weit ist Arbeitsteilung in einem Team sinnvoll? Zeitpolitik ist ein neues Politikfeld. … Informelles und indirektes Lernen sind das Geheimrezept des Lehrstücks UAZ! Die Lehrkräfte sind erstaunt, dass „nebenher noch enorm viel an Einzelheiten über Zeitungen erfahren» wurde und dass «erstaunlich vieles bereits verstanden wurde“ (S. 64). Eine Fülle von Detailinformationen wird en passant erworben. Es gibt Aha-Effekte – „Ich hätte nie gedacht, dass ein Schulhaus so teuer ist.“ (S. 73). Heureka! Das Programm lautet: … eine Art Nachrichtenbad, vergleichbar dem effizienten „Sprachbad“ (Immersion) beim Fremdsprachenlernen. Schmökern – meine Lieblingskompetenz, weil das zweckfreie «Herumlesen» durchaus im Spannungsverhältnis zur absichtsvollen didaktischen Zubereitung der Stoffe in der Schule steht!“ (Grammes in Schmidlin: 151)


4. Ein Politik-Curriculum mit Lehrstücken
Es gibt bislang keine systematische curriculare Entwicklung vom Lehrstücken.
Neue Lehrstücke haben bislang mindestens drei Voraussetzungen: Eine Lehrerin oder ein Lehrer hat schon mit Lehrstücken zu tun gehabt, weil es - selten - eine Lehrkunstwerkstatt in der Schule gibt oder weil es einen Kontakt zum Kreis um Hans Christoph Berg von der Universität Marburg gibt. Zweitens geht es dem Lehrer um ein bestimmtes Thema, das ihm aus welchen Gründen auch immer für den Unterricht wichtig ist. Und drittens muss das Lehrstück halbwegs in den Lehrplan passen, so dass der Lehrer auch Raum im Unterricht für das Lehrstück hat. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, dann arbeitet der Lehrstückentwickler zum einen in der eigenen Schule an seinem Lehrstück, zum anderen wird es in Gesprächen in Lehrkunstwerkstatt oder in Veranstaltungen an der Universität Marburg immer wieder neu durchgearbeitet.

Eine kollegiale Lehrkunstwerkstatt entsteht, wenn in einer interdisziplinären Lehrergruppe jeder eine wichtige, erfahrungshaltige Unterrichtseinheit mit den Kollegen erprobt und weiterentwickelt, und wenn dabei Disziplin, Fantasie, Gestaltenfülle und Ethos der Künste, insbesondere der Lehrkunst mit ihren Exempeln, Konzepten und Methoden leitend ist, neben aller selbstverständlichen Schülerorientierung und Institutionsorientierung. Kurz: Kollegiale Lehrkunstwerkstatt machen, das heißt miteinander ausprobieren und einander helfen, Unterrichtsexempel bestmöglich auszugestalten, inspiriert von Wagenschein und seinesgleichen. (Berg 2003: 16)

Nach den ersten Lehrkunstwerkstätten in den 90er Jahren, die sich aus interessierten Lehrerinnen und Lehrern zusammensetzten, hat Hans Christoph Berg nach 2003 mit Willi Eugster, dem Schulleiter der Kantonsschule Trogen, die „Kollegiale Lehrkunstwerkstatt“ an der Schule entwickelt, ein Instrument der Schulentwicklung (Eugster/Berg 2010). In der Schweiz haben einige Schulen dieses Konzept übernommen, in Deutschland bislang nur das Gymnasium der Bodelschwingh-Schulen in Bethel. Die gegenseitige Hilfe fachfremder Kolleginnen und Kollegen ist von großer Bedeutung: Der Lehrstückentwickler erfährt, wie die Kolleginnen und Kollegen, die nicht von seinem Fach sind, auf sein Stück reagieren. Verstehen sie es nicht, verstehen es auch die Schülerinnen und Schüler nicht. Es kommt oft vor, dass diese fachfremden Kollegen wesentliche Hinweise zur Neugestaltung von Lehrstücken geben. Wenn der Unterricht jedoch fachlicher werden soll, wenn es um fachliche Feinheiten geht, wenn die Politik wünscht, dass das Niveau des Fachunterrichts auf breiter Front angehoben werden soll, dann sind fachlich bestimmte Lehrkunstwerkstätten notwendig. Sie entwickeln schulübergreifend Lehrstücke für den Fachunterricht. Das könnte so ablaufen:
Unter der Leitung des Fachreferenten einer Landesschulbehörde organisieren die Fachabteilungen der Institute für Lehrerfortbildung Arbeitsgruppen, die nach einer Einführung in die Lehrstückentwicklung an Lehrstücken für Themengebiete im Fachunterricht arbeiten. Für den Politikunterricht sind das (Grammes 2001) fünf Themengebiete: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht, Öffentlichkeit/Medien.

Mit den zur Verfügung stehenden Lehrstücken lassen sich einige Bestandteile eines Curriculums für den Politikunterricht beschreiben:
  1. Der Politikunterricht beginnt mit Hilligens „Mayflower“. Alle Bereiche des Politikunterrichts werden angesprochen, für viele Entscheidungsfragen werden erste Alternativen eingeübt und es wird ein Algorithmus von Herausforderung und Antwort eingeübt. Oder mit einer Inselgründung/Dorfgründung nach Spranger/Petrik..
  2. Mit Knigges „Umgang mit Menschen“ lernen die Schülerinnen und Schüler die Vielfalt von Gesellschaft kennen und die Schwierigkeiten, sich in ihr klug zu bewegen.
  3. Von Herodot und Aristoteles lernen sie, einem Staat eine dauerhafte politische Ordnung zu geben, in dem alle Bürger respektiert werden und an dem alle Bürger sich beteiligen können. Dabei lernen sie nicht nur die Grundzüge westlicher politischer Systeme kennen, sondern auch das politische System ihres Landes, in unserem Falle das politische System Deutschlands nach dem Grundgesetz.
  4. Die Qualität des Zusammenlebens der Menschen lernen sie mit Rawls beurteilen.
  5. An der „Unsere Abend-Zeitung“ lernen sie Zeitungen lesen und schreiben. Und sie lernen einiges über Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und Konflikte.

Ein älterer Lehrplan für den Politikunterricht in Hamburg (Behörde Bildung und Sport 2003: 9) gab zwar verbindliche Inhalte vor, ließ der Schule aber Zeit für eigene Themen. Mit Lehrstücken angereichert könnte dieser Plan nun so aussehen:

Tabelle 18: Lehrplan Politik Hamburg 2003, überarbeitet
Jahrgangsstufe 8Jahrgangsstufe 9 und Jahrgangsstufe 10
Gründung mit Hilligens „Mayflower“ oder Dorfgründung nach Petrik9/10 - 1
Wirtschaft II:
• Marktwirtschaft
• Marktprozesse
• Wirtschaftspolitik
9/10 - 4
• „Welches aber ist die beste Verfassung?“ nach Aristoteles
• Westliche Verfassungen
• Parlamentarische Demokratie und politisches System
8-1
Jugend, Gesellschaft und Politik im Nahraum
9/10 - 2
Soziale Fragen und Sozialstaat - Gerechtigkeit nach John Rawls
8-2 Wirtschaft I:
• Private Haushalte im Wirtschaftsprozess
• Betriebe und Arbeitswelt
„Unsere Abend-Zeitung“9/10 - 5
Nachhaltige Entwicklung: Wirt- schaft, Umwelt und Politik
8-3
Rechtsetzung, Rechtsfindung, Recht- sprechung
9/10 - 3
Zivilgesellschaft:
• Akteure, Möglichkeiten, Bedeutung
• Gesellschaft und Individuum mit Knigge
9/10 - 6
(Wirtschaft III)
• Weltwirtschaft
• internationale Politik
• Menschenrechte

Dieser Lehrplan beginnt mit einem Lehrstück, das genetisch-exemplarisch-dramaturgisch in die Themen des Schulfaches grundlegend einführt. Mit Adam Smith, Herodot und Aristoteles, Knigge und Rawls werden einzelne Themenbereiche so erarbeitet, dass aktuelle Probleme, Fälle und Konflikte und die an ihnen zu lernenden begrifflichen Konzepte von den Schülerinnen und Schülern grundlegender erfasst werden können.

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Fußnoten:
1 Wagenschein [1973] 1995: 47
2 Diese „didaktische Moderne“ der Schulpädagogik (Wagenschein, Roth, Klafki) und der Politikdidaktik (Fischer, Hilligen) kann mit der „klassischen Moderne“ des Bauhauses und der Ulmer Hochschule für Gestaltung verglichen werden. Wann immer sie verabschiedet werden soll, kehrt sie doch zurück. Wenn heute die Schülerinnen und Schüler „Kompetenzen“ in „Anforderungssituationen“ erwerben sollen, dann gibt der Hamburger Lehrplan „Politik-Gesellschaft-Wirtschaft“ (Behörde 2011: 11) die Fallmethode nach Fischer vor, also nach Wagenschein. Was denn sonst? Wer heute ein neues Ziffernblatt für eine Uhr malt, orientiert sich schließlich auch an Hans Hilfiker und Max Bill.
3 Entsprechend dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/politik/wahlen/wahl-o-mat/
4 Ein didaktischer Griff, den immerhin schon Hegel in seinen Gymnasialreden benutzt hat (Hegel 1809).
5 Aristoteles wird nach der „Bekker-Paginierung“ zitiert.
6 Die Grafiken können aus Wikipedia genommen werden. Für Großbritannien ist die Grafik von http://www.lycoze.com/2010/11/united-kingdom-political-system.html sehr reizvoll, weil sie, anders als die anderen Darstellungen, das politische System nicht als Hierarchie zeigt.
7 Die Kompetenzen aus den Listen werden kursiv geschrieben.
8 Korrekt scheint der Name übrigens ohne „von“ zu sein (Wikipedia: Adolph_Knigge)
9 Dabei griff sie auf eine Unterrichtseinheit zu Dahrendorfs Rollentheorie von Sibylle Reinhardt (1983) zurück.